Das Kabarett-Theater „Wühlmäuse“ hat nach 40 Jahren wieder ein eigenes Ensemble. Dieter Hallervorden, Gründer und Leiter der Spielstätte, hat sich damit einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Im ersten hauseigenen Stück „Ver(f)logene Gesellschaft“ geht es unter anderem um Eisbein als kulturelles Gegengewicht zum Islam.
New York, John-F.-Kennedy-Airport. Die Anzeigentafel klackert: Der Flug nach Berlin ist gestrichen. Vier Reisende hängen fest: Cornelia, eine gescheiterte Immobilienbankerin, Martin, ein Konfliktforscher, Mandy, eine alleinerziehende Frau mit drei Kindern von drei Männern, und Clemens, ein Start-up-Unternehmer. Er will ein Handy auf den Markt bringen, das sich automatisch jedes Funkloch sucht – „Entschleunigung 3.0“ so der Arbeitstitel.
Pointen kommen Schlag auf Schlag
Cornelia will zu einem „Kick-off-Meeting“ nach Berlin, was sich als Vorstellungsgespräch bei der BVG entpuppt. Mandy ist eigentlich von „Malle“ losgeflogen, wurde aber über Dubai und Reykjavik nach New York umgeleitet („war einfach billiger“). Und Martin kennt sich mit aktuellen Konflikten wenig, dafür aber mit den „Feld- und Waldjägern“ aus dem Neolithikum bestens aus.
Was tun, wenn nichts bleibt als Warten? Man kommt ins Gespräch. Cornelia hat einen Sohn, der seine Lehrer terrorisiert, aber sonst ist er ja „hochbegabt“. Mandy plädiert für eine Herabsetzung des Wahlrechts auf 55 Jahre, weil sonst die Alten dominieren. Und unter 30 sollte auch keiner wählen dürfen, weil die keine Ahnung haben. Clemens, der Konfliktforscher, trocken: „Dann hast du die Altersgruppe, die AfD gewählt hat“.
Die Pointen kommen Schlag auf Schlag, das Publikum muss hellwach bleiben. Denn schon simuliert die Viererbande eine Talk-Show über den Internetzugang für Kinder („Auch Achtjährige müssen zwischen verschiedenen Pornoseiten wählen dürfen“). Zwischendurch setzt es ein paar Seitenhiebe auf Bundespräsident Steinmeier („Silbermütze auf Valium“) oder auf Gauland, der eine ausschließlich rechtsspurige Autobahn nach Nürnberg beantragt habe. Auf der Anzeigetafel twittert Trump seine Kommentare zum Geschehen.
Merkel tritt zum Islam über
Da ploppt die Ankündigung einer unglaublichen Nachricht aus Deutschland auf: Ein Reporter meldet sich vor dem Kanzleramt (gespielt von Dieter Hallervorden). Er ist fassungslos, eine Rede ist angesagt, keiner weiß so richtig, was los ist. Bis im Kanzleramt auf einmal eine tief verschleierte Frau in der Burka vor das Mikrofon tritt: Kanzlerin Merkel ist zum Islam übergetreten.
Nachdem der erste Schock vorbei ist, nehmen die Dinge ihren Lauf. Welche Richtung des Islam vertritt die Kanzlerin: Sind es die Sufisten, Salafisten, Sunniten, Schiiten, Wahhabiten? Wird jetzt der Alkohol verboten? Ist es jetzt erlaubt, mehrere Frauen zu heiraten? Müssen alle im Ramadan fasten? Wie antworten die Banken auf das religiöse Verbot, Zinsen zu nehmen? Wie reagiert das Ausland? Dazu Trumps Twitterkommentar: „Merkel Islam. Big desaster.“
Und was sagt man in Deutschland? Horst Seehofer entdeckt Ähnlichkeiten zwischen dem bayerisch-katholischen und dem islamischen Frauenbild. Eine Veganerin, bei einer Straßenumfrage um ein Statement gebeten, freut sich, dass jetzt Schweinefleisch verboten sei – „das wird weitergehen.“ Ein Russe sieht hinter allem eine zionistische Verschwörung. Die Alkohollobby schäumt, ein Bundestagsabgeordneter weiß nicht, wie er eine Rede von Peter Altmaier ohne Bier überstehen soll. Die Deutsche Bank wechselt in den Krisenmodus, ein Chefbanker spricht vom Dritten Weltkrieg.
Im Text für das Stück „Ver(f)logene Gesellschaft“ von Frank Lüdecke sind dabei etliche Fallen versteckt: Nicht der Koran, Moses wird zum Thema Frauenbild zitiert. Das Zinsverbot wird mit Aristoteles begründet. Und was als scheinbar typisch deutsche Kultur ein Gegengewicht zum Islam darstellen könnte, beruht offenbar auf jahrhundertelangen Missverständnissen. Das Bier etwa? Stammt aus Mesopotamien. Der Schweinebraten? Die ersten Hausschweine gab es in der Osttürkei. Die Nordmann-Tanne? Wächst im Kaukasus. Bleibt: das Berliner Eisbein. Die Schlusspointe soll hier nicht verraten werden – nur so viel: Es geht auch um Fake News.
Zwei Jahre hat das Ensemble geprobt, hat Autor Lüdecke an dem Text gefeilt, immer im Kontakt mit Theaterchef Hallervorden. Herausgekommen ist ein kabarettistisches Theaterstück, keine Nummernrevue. Der rote Faden – Merkel als strenggläubige Muslima – und wie Deutschland und die Welt darauf reagieren. Den zahlreichen Rollen verleihen die vier Schauspieler die passenden Tonlagen und Anmutungen.
So brilliert Santina Maria Schrader als Marzahner Tussi „Mandy“ genauso wie als Religionssoziologin in der improvisierten Talk-Show. Birthe Wolter, die gescheiterte Bankerin „Cornelia“ hat Anne Will voll drauf, wenn sie zum Gespräch lädt. Matthias Harrebye-Brandt zeigt sein Talent als Stepptänzer und Robert Louis Griesbach hat seine Sternstunde, wenn er als Gehörlosendolmetscher die Statements der internationalen Staatschefs in Gebärden übersetzt.
Klamauk ist das nicht, obwohl die Lacher im Minutentakt folgen. „Sicher, das ist ein schmaler Grat“, sagt Matthias Harebye-Brandt nach der Vorstellung. „Aber wir nehmen unsere Figuren ernst, wir spielen nicht auf die Pointe hin.“ Spontan geschieht in dem Stück fast gar nichts, alles, auch die jüngsten Aktualisierungen nach der Bundestagswahl gehören zum Skript. Das kommt an, die Zuschauer gehen mit, manche auch als – wie Birthe Wolter es formuliert – „Schmunzelzuschauer“: „Die applaudieren erst ganz am Ende.“
THeater-Tradition seit 1960
Kabarettist, Schauspieler und Theaterchef Dieter Hallervorden hat sich mit seinen 82 Jahren nicht nur einen Wunschtraum erfüllt, er lässt sein komödiantisches Talent auch in den vielen Einspielern als Reporter aufblitzen. Müde ist er also nicht, das bestätigen auch seine vier jüngeren Kollegen. Tatsächlich hat Hallervorden zusammen mit Autor und Regisseur Frank Lüdecke die neue Truppe mit geformt. Am Anfang stand wohl die Verpflichtung von Robert Louis Griesbach, der schon öfter bei den „Wühlmäusen“ aufgetreten war. Matthias Harrebye-Brandt spielte unter anderem an Hallervordens Schlosspark-Theater einen FBI-Agenten in „Einsteins Verrat“. Santina Maria Schrader war einige Jahre im Ensemble des Kabarett-Theater „Die Distel“ – und Birthe Wolter gewann mit der Sketchserie „Ladykracher“ 2013 den Deutschen Comedypreis.
Sie setzen eine Tradition fort, die 1960 begann, damals noch in einem Theater in Schöneberg. Da bereits entwickelte sich das Kabarett von der hergebrachten Form der beziehungslos nebeneinander stehenden Einzelszenen hin zum kabarettistischen Theaterstück mit Handlungsstrang und durchgehenden Rollen. Als Dieter Hallervorden in den 70er-Jahren schließlich seine „Didi“-Figur kreierte und darauf aufbauend die „Nonstop-Nonsens“-Sendungen entstanden, fungierte das Theater immer mehr als Gastspieltheater für renommierte Kabarettisten und Komiker. Im Jahre 2000 zogen die „Wühlmäuse“ in das Haus am Theodor-Heuss-Platz im Berliner Westend.
Ein Gastspieltheater mit dem gleichen Namen ist es nach wie vor, auf dem Programm stehen aktuell Auftritte unter anderem von Dieter Nuhr, Horst Evers, Jürgen von der Lippe, Matthias Richling und Irmgard Knef. Aber es gibt eben auch wieder ein festes vierköpfiges Ensemble. Ob das zusammenbleibt, auch über den Erfolg des ersten Stückes hinaus? Keine Frage, meint Robert Louis Griesbach, weitere Stücke sind geplant. „Wir haben einen langen Atem mit dem Ensemble“, sagt auch Dieter Hallervorden.
Übrigens: Wühlmäuse sind sehr bodenständig. Gefällt es ihnen irgendwo, bleiben sie zum Leidwesen der Gartenbesitzer gerne.