Dr. Nadja Hermann kämpfte selbst viele Jahre mit Übergewicht. In ihrem Bestseller „Fettlogik überwinden“ geht sie herrschendem Halbwissen rund ums Abnehmen auf den Grund.
Frau Dr. Hermann, Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Fettlogik überwinden“. Was bedeutet der Begriff „Fettlogik“?
Fettlogiken nenne ich die verbreiteten Mythen und Fehlvorstellungen rund um Gewicht und Diäten, die das Abnehmen für viele Menschen schwer machen.
Sie litten seit Ihrer Jugend selbst an Übergewicht und wogen zeitweise 150 Kilo. Sie hatten viele Diäten ausprobiert, aber nahmen mit keiner dauerhaft ab. Was würden Sie aus heutiger Sicht sagen, was Sie falsch gemacht haben?
Das Problem waren nicht die Diäten, sondern die Zeit dazwischen. Ich habe ständig mehr oder minder viel über meinen Bedarf gegessen. Keine Unmengen, aber auf Dauer summiert sich schon ein großer Apfel am Tag zusätzlich zu einem Pfund mehr im Monat. Mein Fehler war, dass ich in Extremen gedacht habe und meinte, Schlanksein heißt, nur noch an Salatblättern zu knabbern, obwohl es gar nicht so viele Änderungen bedurft hätte.
Sollte man von Diäten die Finger lassen?
Kommt darauf an, wie man „Diät“ definiert. Vorgefertigte Konzepte, die möglicherweise nicht zu einem passen oder Mängel verursachen, also die typische „Ananasdiät“ oder Ähnliches, halte ich nicht für sinnvoll. Wenn man „Diät“ allerdings so definiert, dass man einen Weg findet, um eine gewisse Zeit ein Kaloriendefizit zu schaffen um ein gesundes Gewicht zu erreichen, ist das sinnvoll.
Inzwischen haben Sie Normalgewicht. Wie haben Sie langfristig abgenommen und Ihr Gewicht gehalten?
Indem ich eine Diät gemacht habe. Da 85 überzählige Kilogramm nicht in ein paar Wochen verschwinden, habe ich zwischendurch immer mal die Strategie angepasst. Anfangs konnte ich nicht laufen und habe sehr wenig gegessen. Später konnte ich mit Sport beginnen und habe mehr gegessen. Inzwischen versuche ich, ganz normal die Bilanz zu halten.
Können Sie ein paar Tipps geben?
So ziemlich alles zu vergessen, was man je an guten Tipps zum Thema Abnehmen gehört hat, ist ein guter Anfang.
Kann man abnehmen, ohne zu verzichten?
Dazu könnte man fragen: Kann man Geld sparen, ohne zu verzichten, wenn man bisher ein Minus auf dem Konto hatte? Irgendetwas muss man auf jeden Fall ändern. Mit Glück gelingt es natürlich, Dinge zu finden, die sich ändern lassen, ohne dass man das Gefühl hat, es sei ein großer Verzicht.
Wie sieht die optimale Ernährung aus?
So, dass man alle Nährstoffe aufnimmt, die der Körper braucht – wie die Bedürfnisse genau sind, ist individuell, je nach Lebensstil, Alter, körperlichen Bedingungen et cetera, daher kann man das nicht pauschal beantworten. Und abseits von den Grundbedürfnissen an Vitaminen, Mineralstoffen, Fetten, Proteinen und so weiter würde ich sagen: Optimal ist, womit man sich wohl fühlt. Die meisten „goldenen Ernährungsregeln“, zum Beispiel unbedingt frühstücken zu müssen, sind Unsinn.
Kohlenhydrate werden in den letzten Jahren verteufelt – zu Recht oder zu Unrecht?
Zu Unrecht!
Wie sieht es mit Zucker aus? Muss man beim Abnehmen ganz darauf verzichten?
Zucker wird genauso zu Unrecht verteufelt wie Kohlenhydrate generell. Ein Lehrer und ein Uniprofessor haben unabhängig voneinander mit einer „Süßigkeitendiät“ massiv Gewicht verloren, nur um zu beweisen, dass es geht. Das ist natürlich ein Extrem und nicht die gesündeste Art abzunehmen, weil purer Zucker keines der Grundbedürfnisse an Nährstoffen deckt.
Abnehmen funktioniert rein über die Kalorienbilanz, und wenn ich am Tag ausschließlich drei Tafeln Schokolade esse oder drei Liter Cola trinke, nehme ich davon ab, weil es unter dem liegt, was ich an Energie brauche. Natürlich würde ich auf Dauer davon Mängel bekommen. Aber wenn man ansonsten ausgewogen isst, kann man auch beim Abnehmen problemlos Schokolade essen oder Cola trinken, ohne Angst haben zu müssen, dadurch irgendetwas kaputt zu machen.
Die meisten Menschen – auch Ärzte – gehen davon aus, dass Veranlagung, ein langsamer Stoffwechsel oder eine Schilddrüsenunterfunktion Übergewicht begünstigen können. Nach Ihren Recherchen sind Sie der Ansicht, dass es sich dabei um Mythen handelt. Warum?
Grundsätzlich ist der Energieverbrauch sehr verschieden. Ein großer, kräftiger Mann braucht am Tag gut und gerne einfach so das Doppelte an Energie wie eine zierliche, kleine Frau, um den Körper zu versorgen. Dazu kommt noch der Bedarf durch Bewegung, der ebenfalls stark schwankt. Das sind die größten Einflussfaktoren auf den Energiebedarf.
„Bedarf an Bewegung schwankt stark“
Alles Übrige, so wie Krankheiten oder das Alter, hat eher indirekt Einfluss. Der direkte Einfluss auf den Stoffwechsel ist sehr gering, weil unser Körper nach Jahrtausenden an Evolution schon effizient arbeitet. Wir können nicht einfach plötzlich ganz viel Energie einsparen. Aber es kann sein, dass man sich erschöpfter fühlt, sich dadurch unbewusst weniger bewegt und dann tatsächlich weniger verbraucht als normal. Aber auch hier ist der Effekt meist nicht riesig, wenn man nicht gerade Leistungssportler war und sich plötzlich kaum mehr bewegt.
Welche Fakten und Forschungserkenntnisse zum Thema Übergewicht haben Sie bei Ihrer Recherche am meisten überrascht?
Dass mein Stoffwechsel trotz Schilddrüsenunterfunktion, zig Diäten und adipösen Eltern und Großeltern nicht langsamer ist als der einer ähnlich großen, ähnlich schweren und ähnlich aktiven Frau.
Kann man die Fettverbrennung fördern?
Fettverbrennung lässt sich nur durch ein Kaloriendefizit fördern.
Gibt es Lebensmittel, die uns schlank bleiben lassen und die Fettverbrennung ankurbeln?
Nein!
Was kann man bei Heißhungerattacken tun, um ein Sättigungsgefühl zu erreichen und nicht zu Chips und Schokolade zu greifen?
Es gibt viele mögliche Ansätze, allerdings ebenfalls wieder keine pauschalen. Es hat sich gezeigt, dass die körperliche Reaktion, also zum Beispiel Insulinausschüttung, bei Leuten ganz unterschiedlich ausfällt – je nach Lebensmittel. Manche bekommen von bestimmten Lebensmitteln Heißhunger, andere nicht. Man kann daher die durchschnittlich wirkungsvollen Strategien für sich nur ausprobieren und schauen, ob es etwas bringt.
Sport wirkt verschieden auf den Appetit
Grundsätzlich wirkungsvoll sind zum Beispiel Intermittierendes Fasten, also nur in einem bestimmten Zeitfenster essen. Proteinreiche Mahlzeiten wirken generell sättigender, genau wie ballaststoffreiches Essen. Schnelle Kohlenhydrate in Zucker und Weißmehl verursachen bei manchen Heißhunger, in dem Fall kann Vollkorn als Ersatz helfen. Für manche wirkt Sport appetithemmend, für andere anregend. Spazierengehen ist allerdings für die meisten appetithemmend.
Welche Krankheiten werden durch Übergewicht hervorgerufen?
Direkte Zusammenhänge gibt es zu Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Gicht, Asthma, Gallensteinen, Hautproblemen, Unfruchtbarkeit, Rücken- und Gelenkschmerzen, Schlafproblemen. Es hängen außerdem relativ viele Erkrankungen damit zusammen, weil Übergewicht das ganze System belastet und dadurch anfälliger macht für andere Beschwerden.
Wurden Sie von Ihren Ärzten auf die Gefahren von Übergewicht hingewiesen?
Nein. Was sicher zum Teil daran lag, dass sie zu Recht davon ausgehen, dass jeder weiß, dass Übergewicht nicht gesund ist. Wie stark und wodurch sich allerdings mein Gewicht auf meine Beschwerden auswirkt, war mir nicht bewusst. Das zu wissen, hätte vermutlich geholfen.
Seit ein paar Jahren gibt es einen Markt für Curvy Models. Neben großen Frauen mit durchschnittlichem Körper werben auch etwas übergewichtige Frauen für Bekleidung. Sehen Sie das kritisch?
Nein. Jede Körperform braucht Kleidung. Kritisch finde ich nur, wenn Frauen mit Übergewicht unter dem Stichwort „echte Frauen“ oder „richtige Frauen“ präsentiert werden oder es so verkauft wird, als seien das „endlich mal normale Frauen“, wie es gerne getan wird.
„Fettlogik überwinden“ steht nun schon seit über einem Jahr in den Bestseller-Listen – zusammen mit ein paar anderen Ernährungs-, Fitness- und Diät-Büchern. Nehmen diese Themen einen der höchsten Stellenwerte bei uns ein?
Inzwischen ist die Mehrheit der Deutschen übergewichtig – laut BMI. Wenn man die Körperfettwerte hinzuzieht, sogar noch weit mehr, weil der BMI zu einer Zeit aufkam, als Leute körperlich noch aktiver waren und im Schnitt mehr Muskelmasse hatten. Es betrifft also erst einmal viele Menschen
konkret.
Davon abgesehen denke ich, dass sich das System gewissermaßen selbst stärkt. Die Infos, die man aus Büchern, Zeitschriften und von Experten erhält, sind teils komplett gegensätzlich. Je mehr man sich damit beschäftigt, desto verwirrender scheint es zu werden. Und desto eher greift man zum nächsten Buch, das dann aber garantiert wirklich die einzig wahre Wahrheit hat. Das schließt meins jetzt natürlich prinzipiell mit ein. Wobei es mir eher darum ging, einzig wahre Wahrheiten zu prüfen – die meisten davon sind nämlich Quatsch, bis auf ein paar ganz wenige.