Bei der Band Kraftwerk überschlagen sich Kritiker regelmäßig in Superlativen. Karl Bartos, Ex-Mitglied von Kraftwerk, legt nun seine Autobiografie vor: „Der Klang der Maschine". Der 65-jährige Schlagzeuger und Sänger über Kreativität, Computer und tragische Helden.
Herr Bartos, 1970 spielten Sie unter anderem mit Marius Müller-Westernhagen in der Band Sinus. Wie klang Ihre Musik?
Marius hat seine Texte improvisiert und Englisch und Deutsch gesungen. Er war damit weit seiner Zeit voraus. Marius hatte aber eher eine Karriere als Schauspieler im Kopf. Später machten wir mit Sinus Instrumentalmusik und orientierten uns an der britischen Band Soft Machine. Und ich fing an, mich für Zwölftonmusik zu interessieren und in dieser Technik zu komponieren.
Sie haben sich intensiv mit der Geschichte der elektronischen Musik beschäftigt. Wo liegen deren Ursprünge?
Die italienischen Futuristen sagen, dass Sprache und Geräusche aus der Natur, der Umwelt, der Technik auch so gestaltet werden können wie Musik. Das war eine
Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Pierre Schaeffer erzeugte die Musique concrète nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der Elektronik, wie dem Phonographen und dem Tonbandgerät. Und Stockhausens komplexe Notenschrift klang tatsächlich sehr emotional. Und wir haben diesen Ansatz dann mit Popmusik verbunden.
Die Musik, die Sie mit Kraftwerk erstmals am 4. Oktober 1974 um 17.30 Uhr in der Mintropstraße 16 in Düsseldorf spielten, scheinen Sie noch genau im Ohr zu haben. Was machte diese Klänge so besonders?
Ich habe fast 60 Tonaufnahmen aus dem Kling-Klang-Studio. Ich schreibe in dem Buch nur das, was ich durch Fakten belegen kann. Manche Stücke sind auf diesen Writing Sessions in mehreren Versionen vorhanden. Wir verbanden die Melodieführung der Romantik mit den Tonbandexperimenten der Musique concrète und den Popmusikrhythmen der Afroamerikaner. In unserer Musik fand keine Ausgrenzung statt, wir nahmen einfach alles, was gut klang.
„Wir nahmen einfach alles, was gut klang"
Besteht eine Chance, dass diese Aufnahmen eines Tages veröffentlicht werden?
Da müsste man Ralf Hütter und Florian Schneider fragen. Leider haben sich meine früheren Kollegen dazu entschieden, nicht zu kommunizieren. Das muss man respektieren. Ich persönlich fände es klasse, weil da sehr gute Sachen dabei sind wie das Original von „Techno Pop". Es klingt ein bisschen nach Monteverdi. Ich werde diese Tapes irgendeinem Museum hinterlassen. Was damit passiert, sollen andere klären. Oskar Sala hat das mit seinem Nachlass auch gemacht.
Welche Intention steckt hinter Ihrem Buch?
George Orwell hat gesagt: „Die Wirklichkeit spielt sich im Kopf ab." Das bedeutet, es gibt keine Objektivität. Eine Kombination von Fakten lässt sich nur subjektiv betrachten. Vielleicht kann man Dinge historisch objektiv betrachten. Seit mehr als 40 Jahren wird jetzt eine Geschichte von Kraftwerk erzählt, meistens aus dem Blickwinkel einer Person. Ich finde es aber nützlich, auch mal eine andere Perspektive zu hören. Und das kann man, wenn man dieses Buch aufschlägt. Ich bin natürlich auch nicht objektiv.
Wolfgang Flür musste seine Autobiografie „Kraftwerk – Ich war ein Roboter" 1999 vom Markt nehmen und umändern, weil seine früheren Kollegen Hütter und Schneider dagegen geklagt hatten. Rechnen Sie mit ähnlichen Reaktionen?
Ich habe keine Ahnung. Das kann jederzeit passieren, ich bin auf alles vorbereitet. Deshalb habe ich dieses Buch auch mit großem Abstand und Respekt vor meinen ehemaligen Kollegen geschrieben.
Haben Sie das Gefühl, dass Ralf Hütter und Florian Schneider nach Ihrem Ausstieg nicht besonders fair mit Ihnen umgegangen sind, was Ihren Beitrag zu Kraftwerk betrifft?
Das können Sie so denken, aber ich kann das nicht kommentieren. Ich habe mir wirklich viel Zeit gegeben, mir über meinen Standpunkt selbst klar zu werden. Vieles, worüber ich in dem Buch schreibe, ist mir erst klar geworden, als ich ernsthaft versucht habe, eine Analyse zu betreiben. Das schließt ja aus, dass man irgendetwas zu emotional betrachtet. Als ich jünger war, fand ich vieles nicht toll. Aber es ist eine Gnade des Älterwerdens, dass die Zeit einen Abstand ermöglicht. Vielleicht habe ich damals auch etwas falsch gemacht. Ralf Hütter und Florian Schneider haben jedenfalls eine andere Wahrnehmung von meiner Position bei Kraftwerk als ich. Ich akzeptiere das heute, nur wollte ich es auch mal zur Kenntnis bringen.
Wurden Sie bei Kraftwerk eher zufällig zu einem Songschreiber, der Klassiker wie „Das Model" und „Computerliebe" mitkomponierte?
Im Opernhaus braucht man keine Songschreiber, aber ich kam aus der Zeit der Popmusik und interessierte mich auch für Jazz. Da ist die Improvisation eine schnelle Form des Komponierens. Ich kam zu Kraftwerk nach ihrer dritten Platte und sollte klassisches Schlagzeug spielen, aber sie wussten nicht, dass ich auch improvisieren und komponieren kann. Ab „Mensch Maschine" gehörte ich zum Team, und ich glaube, nicht zum Nachteil des Produkts. Dass Kraftwerk mal relativ berühmt werden würden, war damals gar nicht abzusehen. Wir waren einfach drei Jungs in einem Raum, die Musik improvisiert haben. Darauf habe ich mich zuhause vorbereitet und unter anderem eine Melodie erfunden, die später „Computerliebe" hieß. Ralf Hütter hat anschließend auch etwas dazu beigetragen. Es war Jazz mit anderen Mitteln.
„Ich bin fasziniert von Automatenmusik"
Stars wie Elton John und David Bowie wollten gern mit Kraftwerk arbeiten. Wann wurde Ihnen Ihr Einfluss auf die Popmusik so richtig bewusst?
Ich persönlich habe Bowie nicht getroffen, aber Ralf und Florian. Zur Zeit von „Mensch Maschine" fingen unglaublich viele Musiker an, sich auf uns zu berufen. Mit dem Sequenzer zu arbeiten erschien uns wie eine Industrialisierung der Musikproduktion. Ich bin fasziniert von Automatenmusik, aber die Kraftwerk-Klänge, die heute alle für Computermusik halten, waren in Wirklichkeit handgespielt.
Kraftwerk spielten damals mit futuristischen Instrumenten wie dem TR 808 Rhythm Composer, dem Spectrum Analyser, dem Votrax Sprachsynthesizer, dem Polymoog, dem Synthanorma Sequenzer oder dem Vako-Orchestron und wurden zu Pionieren der elektronischen Musik. Was passierte mit Ihrer Musik, nachdem die Computer Einzug in die Band gehalten hatten?
Wir hatten anfangs keinen Computer. Später hatten wir ein elektronisches Schlagzeug und einen Musikautomaten, der konnte 16 Töne wiederholen. Der Rest war Freestyle. Der entscheidende Punkt ist, dass die Mensch-Maschine-Balance bis zur Digitalisierung Mitte der 1980er-Jahre im Lot war. Wir standen in einem Raum, sahen uns in die Augen, und ein Synthesizer sprach mit dem anderen. Und das dritte Instrument kommentierte die Unterhaltung. Unsere Musik war wie Jazz, aber in unserer Rhetorik überwog die Apotheose des Fortschritts: „Der Synthesizer ist meine Frau, die Gitarre ist ein Instrument aus dem Mittelalter." Im Zuge der Digitalisierung änderte sich die Mensch-Maschine-Balance zu unserem Nachteil. Da stand auf einmal ein Computer im Studio, wir drei schauten auf den Monitor, und einer gab die Befehle ein. Das Interface zwischen uns und der Musik war eine kleine Maus, ein Nadelöhr. Dadurch verlor unsere Musik ihren polyphonen Charakter und wurde zu einer seriellen Form des Ausdrucks, begleitet durch das Sampling, das damals begann, die Popmusik zu verändern.
Die Geschichte von Kraftwerk ist von zahlreichen Erfolgen gekrönt, aber in ihr steckt auch eine gewisse Tragik: Kann eine Band, die sich immer über ihre Innovationskraft definiert hat, ihrem eigenen Anspruch überhaupt noch gerecht werden?
Die Meinung, dass bessere Maschinen bessere Musik hervorbringen, teilte ich nicht mit den anderen. Dem Menschen ist es egal, womit er Musik macht. Es ist unheimlich zu sehen, wie viele Leute glauben, dass Technik die Lösungen für die Menschheit bringen wird. Wenn man bei Kraftwerk überhaupt von Tragik sprechen kann, dann liegt sie darin, dass einige von uns dachten, der Computer würde uns entlasten. Dass durch seine Kompetenz Freiräume für die Kreativität entstehen würden. Dass der Computer uns mehr Zeit zum Denken geben würde. Aber unsere Zeit ging dafür drauf, die Musik, die wir vorher improvisatorisch geleistet hatten, in den Computer zu transferieren. Es entstand nichts Neues, weil wir zu sehr damit beschäftigt waren, der Technik hinterherzulaufen. Der Computer hat bisher nur die Verwaltung der Musik revolutioniert, und dabei ist so etwas „Tolles" entstanden wie Spotify.
„Wir sprachen nicht mehr miteinander"
Gab es einen Zusammenhang zwischen Ralf Hütters und Florian Schneiders Fahrradleidenschaft und dem Musikmachen?
Es führte zu einer Versportlichung der Musik. Nach dem Album „Computerwelt" wurde insbesondere Ralf Hütter zum Extremsportler. Extremsport verändert generell das Denken eines Menschen. Bis zu „Computerwelt" bastelten wir immer so lange an der Musik herum, bis wir etwas gefunden hatten, das zu uns sprach. Und dann verbesserten wir es, so gut wir konnten. Die Quellen unserer Inspiration – beispielsweise die Musik der Romantik –, waren zum Teil weit entfernt, vermischten sich mit anderen Ideen und erhielten in unserem elektronischen Soundscape einen neuen musikalischen Ausdruck. Die Transformation war dabei das Entscheidende. Und plötzlich benutzten alle den Computer und imitierten unseren Klang. Und wir versportlichten unser Denken, indem wir in die Diskotheken gingen und uns mit anderen verglichen. In dem Moment verlor unsere Musik ihre Autonomie und wurde zu Design. Wir machten Gebrauchsmusik und sprachen auch nicht mehr miteinander.
Am „Electric Café/Techno Pop"-Album schraubten Sie fünf Jahre herum. War das nicht frustrierend?
Zu dem Zeitpunkt war ich an den Lizenzen von Kraftwerk mit einer bestimmten Prozentzahl beteiligt. Aber die Dauer der Produktion war offen. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich an einer Platte ein, zwei oder fünf Jahre arbeite. Letzteres heißt, ich arbeite umsonst oder für unglaublich wenig Geld. Nachdem mir das klar geworden war, beschloss ich, mein Leben zu ändern.
War das Buch für Sie eine Befreiung?
Es hat mich sehr viel Kraft gekostet, weil meine Erkenntnis mit der Zeit wuchs. Aber ich habe mich bemüht, meine Emotionen außen vor zu lassen. Es war sehr spannend, mir selbst als jungem Mann zu begegnen. Aber ich denke heute anders als früher. Ich hatte damals niemanden, der mich berät. Mein Vater war in Amerika, und ich glaubte, Ralf und Florian wären meine älteren Brüder und würden mich beraten. Ich dachte, Ralf Hütter hätte das Management für Kraftwerk übernommen, aber in Wahrheit hat er sich selbst gemanagt und nicht die Gruppe. Begriffen habe ich das alles erst mit fortgeschrittenem Alter.