Pauline Schäfer aus dem saarländischen Bierbach hat durch ihren Titelgewinn bei der Kunstturn-Weltmeisterschaft in Montreal am Schwebebalken deutsche Sportgeschichte geschrieben. Die 20 Jahre alte Sportsoldatin avancierte prompt zu einem Medienliebling und hat das Zeug zu einer neuen Ikone.
Dicke Matten, dünne Matten, ein großer Teppichschwingboden, Geräte in der Halle und an der Wand, Magnesia in Behältern und auf dem Boden, laute Rufe, viele Menschen, Kommandos, laute Flüche – und Schweißgeruch: Das ist auch über 150 Jahre nach Turnvater Jahns Zeiten das Erscheinungsbild von Turnhallen, das ist aber auch die Welt von Pauline Schäfer.
Durch ihren historischen Titelgewinn bei der Kunstturn-WM in Montreal am Schwebebalken hat die in Dudweiler geborene und in Bierbach aufgewachsene Saarländerin ihre Sportart mit einem Schlag aus einem jahrzehntelangen Schattendasein ins Rampenlicht befördert – und ist selbst zu einem Medienliebling avanciert.
Gold-Kür auf allen Kanälen
Ob in den Hauptnachrichtensendungen von „Tagesschau“ und „heute“, ob bei „SternTV“ (RTL), im „ZDF-Sportstudio“ oder in diversen ARD-Regionalprogrammen – auf gefühlt allen Kanälen turnte in der zweiten Oktoberhälfte Pauline Schäfer mit ihrer Gold-Kür über die Bildschirme.
Angenehmer Nebeneffekt für ihren Sport: Die miefigen, ja lange als Stätten drillartigen Trainings fast schon verpönten Turnhallen sind in Jahns Heimatland plötzlich wieder salonfähig. Turnen is coming home. Die neuen und großen Chancen von Schäfer und des Kunstturnens gründen sich in der heutigen Mediengesellschaft auf einen wichtigen Unterschied zwischen der Wahl-Chemnitzerin und Reck-Olympiasieger Fabian Hambüchen als bislang letztem Vorturner der Nation: Schäfer verbreitet schon in der Halle bei ihren Übungen qua Kleidervorschrift die Aura eines Glamourgirls. Die teils selbst entworfenen Outfits der neuen Weltmeisterin und ihrer gleichfalls elegant geschminkten Kolleginnen sind schlichtweg für TV- und Kamera-Motive prädestiniert; Hambüchen und Co. kommen hingegen in ihren Stretchhosen und ärmellosen Turnleibchen mit der Betonung ihrer muskelbepackten Oberarme eher bieder als altbackene Kraftmeier daher.
Keine Frage: Pauline Schäfer dürfte der neue Hambüchen werden. Schon kürte die „Bild“-Zeitung die sympathische Sportsoldatin zu Deutschlands „Turn-Königin“ und wies der Abendgymnasiastin damit den Weg in eine Zukunft als Ikone und Medienstar. Der Rummel nach ihrer Rückkehr aus Montreal bedeutete für die Freundin von Hambüchens Reck-Kollegen Andreas Bretschneider denn auch wohl nur den Anfang eines neuen Lebensabschnitts.
Das Ausmaß ihres Popularitätsschubes dürfte der Balken-Queen bei der Landung nach ihrer sensationellen Gold-Übung und nach der späteren Entscheidung nicht einmal im Ansatz kaum bewusst gewesen sein. Mit Tränen in den Augen genoss Schäfer den bislang größten Moment ihres Lebens.
Elegant und geschmeidig wie eine Katze hatte die siebenfache Deutsche Meisterin zuvor durch eine perfekte Vorstellung auf dem nur zehn Zentimeter breiten und fünf Meter langen Steg imponiert. 1,25 Meter über dem Boden vollbrachte Schäfer trotz wochenlanger Rückenprobleme in der unmittelbaren WM-Vorbereitung im selbst kreierten Gymnastikanzug die höchsten Sprünge, die exaktesten Spagate, die spektakulärsten Pirouetten und – für den Gold-Coup letztlich entscheidend – sogar auch den nach ihr benannten „Schäfer-Salto“. Der inzwischen vom Weltverband FIG als eine Höchstschwierigkeit anerkannte Seitwärts-Salto mit einer halben Drehung ist seit der WM auch außerhalb der Turner-Szene zu Schäfers Markenzeichen geworden. In den Medien war das Element nach Montreal beinahe so oft ein Thema der Berichterstattung wie die Probleme im Fußball mit dem Videobeweis.
„Perfektionismus stark ausgeprägt“
Erfunden hat die Championesse das Übungsteil nicht. Nachdem Trainingsgefährtinnen ihr von den vergeblichen Versuchen anderer Athletinnen in einem Trainingslager in Kanada davon berichteten, brachte Schäfer den Vortrag allerdings durch zähes Training als erste Frau der Welt auch auf das Gerät. Die Voraussetzung dazu war jedoch die vorherige Überwindung ihrer Rückwärtsblockade, also der Angst vor Überschlägen mit dem zwangsläufigen Sprung ins Leere. Noch vor vier Jahren verpasste Schäfer wegen dieser Problematik die Qualifikation für die WM. 2015 bei den nächsten Welttitelkämpfen allerdings setzte die bei der Sportfördergruppe der Bundeswehr im sächsischen Frankenberg stationierte Hauptgefreite durch eine auch schon geschichtsträchtige Bronzemedaille ein deutliches Ausrufezeichen.
Ihr Antrieb ist ein enormer Ehrgeiz. „Mein größtes Problem ist manchmal, dass es mir schwerfällt, zufrieden mit mir selbst zu sein“, charakterisiert sich Schäfer selbst: „Dieser Perfektionismus, den jeder Sportler irgendwo in sich trägt, ist bei mir einfach sehr stark ausgeprägt.“
Als ein Resultat dieses Strebens nach ständiger Verbesserung brachte ihr die begeisternde Darbietung von Montreal ausgerechnet an jenem Gerät, das ganze Generationen deutscher Turnerinnen als „Zitterbalken“ fürchteten, einen Eintrag in die Geschichtsbücher: Schäfer ist die erste deutsche Turn-Weltmeisterin seit dem Stufenbarren-Erfolg der Berlinerin Dörte Tümmler vor 30 Jahren und die erste WM-Titelgewinnerin am Balken seit der legendären Maxi Gnauck (auch Berlin), die 1981 ebenfalls für die damalige DDR triumphierte. Der Deutsche Turner-Bund (DTB) feierte durch Schäfers Gold den ersten WM-Erfolg seit Hambüchens Reck-Sieg 2007 und sogar seinen ersten Titel bei den Frauen überhaupt.
Derlei Statistiken sind für Schäfer jedoch zweitrangig. Nur am Balken ist Schäfer in ihrem Element. „Schwere Dinge leicht aussehen lassen, fliegen, kreativ sein – das mag ich“, beschreibt der angehende Turnstar seine Leidenschaft für ihre Sportart und sich selbst: „Es heißt ja nicht von ungefähr Kunstturnen.“ Am Schwebebalken sei zudem der Reiz eine besondere Herausforderung: „Es ist das undankbarste Gerät von allen. Der Schwebebalken verzeiht dir nicht den kleinsten Fehler.“
Ungeachtet der Schwierigkeit entwickelt Schäfer nach der bereits erfolgten Anerkennung eines weiteren Elementes in Daniel-Düsentrieb-Manier längst schon neue Bewegungsvarianten: „Schäfer III“, erklärt die zurückhaltende Weltklasse-Athletin verschmitzt lächelnd, „ist geplant“.
Alle sportlichen Pläne durchkreuzt hätte vor einiger Zeit fast ein Streit mit ihrem früheren Heimtrainer in Saarbrücken. Mit 13 Jahren wandte sich Schäfer vom Turnen ab und dem Stabhochsprung zu. „Es gab da eine Störung im Verhältnis zwischen Trainer und Athletin“, sagt Schäfer im Rückblick auf jene schwierige Zeit nur. Weil „Stabhochsprung mir aber zu eintönig war“, hatte eine andere Übungsleiterin wenig später nur wenige Probleme, die damalige Teenagerin von den Chancen einer Rückkehr in die muffige Turnhalle der Hermann-Neuberger-Sportschule in Saarbrücken zu überzeugen.
Zwei Jahre später bedeuteten vier Medaillen bei den deutschen Junioren-Meisterschaften den ersten großen Meilenstein auf Schäfers Weg in die Weltelite. Der Erfolg führte zu einer Entscheidung, die Schäfer ausgesprochen schwerfiel: die Übersiedlung zum Bundesstützpunkt im 550 Kilometer entfernten Chemnitz. Zunächst sträubte sich in der Jugendlichen alles gegen den Umzug: „Meine Familie bedeutet mir alles.“ Doch letztlich wagte Schäfer angesichts der ungleich besseren Möglichkeiten den Sprung ins Ungewisse. „Wenn ich zurückdenke, habe ich wohl alles richtig gemacht“, sagte die Weltmeisterin nun aber nach der Heimkehr aus Montreal über die Früchte der Zusammenarbeit mit Chefbundestrainerin Ulla Koch und Heimtrainerin Gabriele Frehse.
Inzwischen ist ein Teil ihrer Familie auch wieder bei ihr. Ein Bruder und ihre ebenfalls hochbegabte Schwester Helene leben mittlerweile auch in Chemnitz. Für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio hofft Schäfer sogar auf eine gemeinsame Teilnahme mit ihrer vier Jahre jüngeren Schwester: „Das ist mein absoluter Traum.“