Feminismus ist für verkrampfte Frauenkämpferinnen, sagen die einen. Kein(e) Feminist(in) zu sein, heißt, die Welt nicht verstanden zu haben, die anderen. Wer so diskutiert, verfehlt den Kern der Sache, und verpasst die Chance, etwas zu bewegen.
Eine gemütliche Familienfeier vor ein paar Jahren. Zahlreiche Verwandte sitzen an einer langen Tafel, essen, trinken, unterhalten sich. Die Stimmung ist ausgelassen, bis ich mich mit einem damals 80-jährigen Verwandten über meine berufliche Situation unterhalte. Ich machte zu der Zeit gerade ein Praktikum in der Programmplanung des Zweiten Deutschen Fernsehens, immerhin dem größten Fernsehsender Europas. Ab und an bin ich ein Stockwerk hochgefahren, um im Sekretariat des Intendanten unsere Berichte abzugeben. „Ah“, sagte mein Verwandter „dann angelst du dir dort jetzt ein hohes Tier.“ Das war keine Frage, das war eine völlig selbstverständliche Feststellung. Mir englitten augenblicklich sämtliche Gesichtszüge. Ich stockte kurz, versuchte dann die Situation etwas aufzulockern und antwortete „Na, komm schon, ich brauch doch kein hohes Tier, das kann ich doch selber.“
Daraufhin englitten meinem Verwandten sämtliche Gesichtszüge, denn das war er nicht gewöhnt. In seiner Generation herrschten für Frauen noch ganz andere Bedingungen. Wir hingegen wurden großgezogen in dem Bewusstsein, dass wir dasselbe können wie Männer. Wählen, studieren, dieselben Jobs machen und dafür dasselbe Geld verlangen. Aber macht uns das schon zu Feministinnen?
Feminismus – das Wort alleine ist schon so sexy wie weiße Tennissocken in Sandalen. Junge Männer fühlen sich angegriffen, profitieren sie doch von männlich geprägten Strukturen. Junge Frauen wollen nicht mit Kämpferattributen in Verbindung gebracht werden, aus Angst die eigene Anziehungskraft könne darunter leiden. Dabei ist der Feminismus der Definition nach bloß der Glaube an die gesellschaftliche, politische und ökonomische Gleichheit der Geschlechter. Da kann doch eigentlich niemand mehr etwas dagegen haben, erst recht nicht als Frau.
Als Angela Merkel, die erste Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, dieses Jahr auf dem Frauengipfel gefragt wurde, ob sie Feministin sei, antwortete sie, die Geschichte des Feminismus sei eine, bei der es sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede mit ihr gäbe. Sie wolle sich auch nicht mit fremden Federn schmücken. Als Moderatorin Miriam Meckel die restlichen Frauen des Panels befragte, unter ihnen etwa IWF-Chefin Christine Lagarde und die Tochter des US-Präsidenten Ivanka Trump, rissen sie ganz begeistert die Hände in die Höhe, das Publikum jubelte. Trotz des guten Grundgedankens herrscht selbst innerhalb der Frauen Uneinigkeit darüber, ob man mit Feminismus etwas zu tun haben will oder nicht. Das ist nicht nur schade, sondern ein echtes Problem. Solange wir noch über Begriffe diskutieren müssen, kommen wir nicht voran. Ein Bekenntnis zum Feminismus würde verlangen, anzuerkennen, dass es auch heute noch keine strukturelle Gleichheit zwischen Mann und Frau gibt. Jedes Jahr werden 15 Millionen Mädchen verheiratet bevor sie 18 Jahre alt sind – das sind fünf Mädchen in den 30 Sekunden, in denen Sie diesen Satz lesen. Kinderheirat bedeutet für Mädchen im Regelfall das Ende ihrer Schulbildung, ihrer beruflichen Laufbahn und das Ende des Rechts, selbstbestimmte Lebensentscheidungen zu treffen. Suizid ist der häufigste Grund für den Tod von Mädchen zwischen zehn und 19 Jahren weltweit.
Die Männer müssen mitziehen
Aber die Ungerechtigkeit beschränkt sich nicht auf Entwicklungsländer. Selbst in einer der führenden Industrienationen wie Deutschland liegt der durchschnittliche Gehaltsunterschied bei rund 20 Prozent. Damit zählt Deutschland neben Zypern, Estland und der Slowakei zu den vier europäischen Ländern, in denen Frauen wirtschaftlich am stärksten benachteiligt werden. Ab dem 30. Lebensjahr geht fast die Hälfte der Frauen in Teilzeit – aus dieser Stellung heraus macht kaum noch eine von ihnen Karriere. Und wenn, verdienen sie in der Regel weniger als Männer.
Es geht nicht nur um wirtschaftliche und gesellschaftsstrukturelle Punkte, es geht um das, was in unseren Köpfen passiert. Immer noch müssen sich Frauen rechtfertigen – wenn sie Kinder wollen, weil sie zu wenig Karriere machen, wenn sie Karriere machen, weil sie sich zu wenig um ihre Kinder kümmern, wenn sie beides haben, wie sie das denn nun vereinbaren wollten. Immer noch schreiben wir über Frauen in Männerberufen und stellen besonders erfolgreiche oder mächtige Frauen exponiert heraus. Weil es eben noch nicht normal ist. Solange es das nicht ist, sind wir nicht gleich. Wenn wir uns darüber einig sind, können wir endlich diese unseligen Diskussionen beenden und vom Denken ins Handeln kommen.
Dabei müssen wir die Männer mitnehmen. Denn die Idee der Feminismus würde nur den Frauen nutzen, ist ein Irrläufer. Er bietet den Männern die Möglichkeit, ihre Rolle neu auszuhandeln. Gleiche Rechte bedeutet eben auch: Männer müssen nicht mehr die alleinigen Ernährer der Familie sein, sie können zuhause bleiben und sich um die Kinder kümmern, sie können sich freimachen von antiquierten Rollenbildern und unrealistischen Erwartungen. Eine Familie ist stabiler, wenn sie auf zwei Säulen steht. Eine Beziehung glücklicher, wenn beide gleichberechtigt sind. Feminismus ist kein Gegeneinander, sondern eine kognitive Ausrichtung, von der alle profitieren.
Malala Yousafzai kämpfte bereits im Alter von elf Jahren für die Rechte von Frauen und Kindern. Dafür wurde sie in ihrer Heimat Pakistan angeschossen. In ihrer Rede vor den Vereinten Nationen sagte sie: „Wir können nicht gewinnen, wenn die Hälfte von uns zurückgehalten wird.“ Um als Gesellschaft zu gewinnen, müssen wir an einem Strang ziehen – nicht nur Frauen und Männer gemeinsam, auch Frauen müssen aufhören, sich gegenseitig zu blockieren.
Das Bekenntnis zum Grundgedanken ist wichtig, der Name zweitranging. Wenn wir das nicht Feminismus nennen wollen, suchen wir halt ein neues Wort. Integrität zum Beispiel. Die US-Forscherin und Autorin Brené Brown definiert es wie folgt: „Mut vor Komfort zu wählen. Das Richtige dem Lustigen, Einfachen oder Schnellen vorzuziehen. Unsere Werte zu leben, statt uns bloß zu ihnen zu bekennen.“ Und jetzt: lassen Sie uns endlich etwas tun!