Das ist der Wahlspruch von Hildegard Lehmann, 101 Jahre. Dem folgt sie bis heute, auch wenn die Ziele etwas kleiner geworden sind.
Es dauert etwas, bis auf das Klingeln geöffnet wird. Hildegard Lehmann steht in der Tür, auf eine Laufhilfe gestützt. Das lässt sie sich nicht nehmen. „Ich muss in Bewegung bleiben", sagt sie. Vor Kurzem ist sie bei einem Ausflug gestürzt, „ausgerechnet an einem 13.", schmunzelt sie. Nach Krankenhaus und Reha ist sie wieder zu Hause in ihrer kleinen Wohnung in Charlottenburg. Der Rücken macht noch Probleme, aber naja …
Sie hat sich immer durchgebissen, ihr ganzes langes Leben lang. Geboren wurde sie 1916 in Falkenberg im heutigen Brandenburg in einer Eisenbahnerfamilie. 1936 kommt sie nach Berlin, arbeitet dort bei einer Familie als Kindermädchen. Die nimmt sie mit, als sie später nach Frankfurt am Main geht. 1942 zieht es Hildegard Lehmann doch wieder nach Falkenberg, wo sie als Fernschreiberin bei der Eisenbahn tätig ist. Dann die Versetzung nach Warschau. „Dort habe ich mit anderen in einer ganz modernen Dienstwohnung gelebt. Da gab es Sachen, die kannte ich noch gar nicht, wie eine Badewanne mit Stufen zum Reinsteigen." Sie wird schwanger und muss zurück nach Hause. Ihre Tochter entbindet sie Heiligabend 1944 und zieht sie allein groß. „Sie war ein Achtmonatskind, so dünn, kaum einer hat geglaubt, dass sie überlebt."
Falkenberg wurde kurz vor Kriegsende bombardiert, eine Wohnung finden ist schwer. Sie arbeitet wieder als Kindermädchen bei der Familie, pendelt zwischen Berlin und Falkenberg. Das ist anstrengend, hat aber auch Vorteile. Dem Vater bringt sie Weißbrot aus Berlin mit, für die Familie frisches Obst und Gemüse aus dem väterlichen Garten. Die Tochter wächst mit den Kindern ihres Arbeitgebers auf, sie kann dort auch mal übernachten. Weil sie Unterkunft und eine Arbeit nachweisen kann, darf sie sich in Berlin anmelden, das war 1948.
Es verschlug sie nach Charlottenburg. Weil die Familie wegzog, verlor sie ihre Stelle als Kindermädchen und war arbeitslos. Zuerst jobbte sie als Näherin, später bot sich die Gelegenheit, als Verkäuferin bei Wertheim anzufangen, anfangs als Weihnachtsaushilfe. „Nach ein paar Tagen haben sie mich gefragt, ob ich nicht länger bleiben möchte." Sie blieb, musste sich einarbeiten in der Herrenabteilung. Noch heute kann sie die verschiedenen Hosengrößen aufzählen. Doch sie verdiente wenig. Wie damals üblich, wurde die letzte Lohnabrechnung zugrunde gelegt. Die hatte sie aber bekommen, als sie im Sportverein im Sommerlager die Kinder bekochte.
Dann kam die Rente, und endlich hatte sie auch mehr Zeit für ihre große Leidenschaft, das Rollschuh- und Schlittschuhlaufen. Schon als Kind zog es sie auf die Rollen und Kufen. „Mein Leben lang wollte ich Rollschuhlaufen, wie die anderen Kinder", erinnert sie sich, „aber mein Vater sagte nein, das ist nichts für dich." Später in Frankfurt am Main, „der Hochburg des Rollschuhlaufs", wie sie betont, hat sie sich einen Verein gesucht und zog dort ihre Runden.
Ehrung für besondere Verdienste im Sport
Zurück in Berlin sah sie ein Schild an einem Zeitungskiosk: „Der SCC sucht Rollschuhläufer für die Kindergruppe." Der SCC ist der Sport-Club Charlottenburg und gehört zu den größten Berliner Sportvereinen. „Ich bin also dahin, drei Kinder waren da. Die staunten, weil ich Rollschuhe hatte und nicht wie sie angeschnallte Kufen. Es hat ihnen Spaß gemacht, das sprach sich herum und bald kamen 25 Kinder zum Training." Stolz erzählt sie weiter: „37 Jahre war ich Übungsleiterin, betreute auch die kleinen Anfänger im Eislaufen. Aufgehört habe ich mit 70 Jahren, nach einem Unfall." Heute ist sie Ehrenmitglied. Ihre Eislauf- und Rollschuhe hat sie nie wieder angezogen. Aber dem Sport blieb sie treu, war viele Jahre ehrenamtliche Helferin beim Marathon und half in der Garderobe des Sportpalastes bei Großveranstaltungen aus. Da hat sie auch Christine Errath getroffen. „Da, auf dem Foto an der Wand, das ist sie zusammen mit mir." Hildegard Lehmanns Augen leuchten. Mit Mühe steht sie auf und geht zum Schrank. „Danke, es geht schon." Sie hat ein etwas vergilbtes Buch in der Hand und blättert darin. „Das hat sie mir geschenkt mit einer Widmung. Am 101. Geburtstag hat sie mich besucht." Auch ihre ehemaligen „Rollschuhkinder" trifft sie immer mal wieder. Eine von ihnen ist Friseurin, die kommt vorbei und macht ihr die Haare. Ihre Hände zittern leicht, als sie das Buch zurücklegt. Hinter dem Glas eine Parade von Pokalen und Auszeichnungen. Da die SCC-Ehrenplakette, hier ein Ehrenbär für den treuesten Fan, dort die Medaille für besondere Verdienste um die Förderung des Sports, verliehen vom Berliner Senat 2000. Über dem Bett hängen weitere Urkunden.
Eine andere Leidenschaft von Hildegard Lehmann ist das Theater. Seit 1948 ist sie Mitglied der Freien Volksbühne Berlin, hat viele Vorstellungen besucht und bei Veranstaltungen ausgeholfen. „Einmal beim Sommerfest habe ich die Lottofee bei der Verlosung gespielt", sagt sie und lacht.
Auch im brandenburgischen Eisenbahnmuseum Falkenberg ist sie ein gern gesehener Gast. Ein Foto auf deren Webseite zeigt sie rittlings sitzend und fröhlich lachend auf der Miniaturbahn. Die „Eisenbahn-Omi" wird sie genannt und ist bei vielen Aktionen dabei.
Die Charlottenburg-Wilmersdorfer und ihr Bürgermeister Reinhard Naumann kennen sie als eine der treuesten Kiez-Spaziergängerinnen. Fast alle der bisherigen 188 Touren hat sie mitgemacht. Abhalten können sie nur Eis oder Schnee oder eben ein dummer Unfall. Ein wenig kokett betont sie: „Der Bürgermeister lobt mich immer: Unsere 101-Jährige ist auch wieder dabei." Sie will ja noch wissen, was um sie herum passiert, was es Neues gibt, auch wenn die Augen oder die Beine nicht mehr ganz so wollen wie sie.
Ihr nächstes Ziel ist der Gang zum Wahlbüro am 24. September. Ob sie es geschafft hat? Natürlich hat sie. „Es war mein erster Spaziergang nach draußen, meine Nachbarin hat mich begleitet. Ich bin bisher immer wählen gegangen. Man muss doch schließlich ein Ziel haben."