Die elektronische Gesundheitskarte hat die bei ihrem Start 2006 in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Die großen Krankenkassen wollen nicht länger warten und suchen eigene Wege.
Wer in der Fußgängerzone unvermittelt Opfer eines Schlaganfalls wird und zusammenbricht, wird normalerweise schnellstmöglich in ein Krankenhaus gebracht. Verliert der Patient bis zur Ankunft in der Notaufnahme das Bewusstsein und hat darüber hinaus auch keinen nahen Angehörigen an seiner Seite, der die behandelnden Ärzte über den bisherigen Gesundheitszustand informieren kann, dann wird es schwierig. Genau diese Informationslücke sollte eigentlich die „elektronische Gesundheitskarte" (kurz: eGK) füllen.
Die Karte mit dem eingebauten Speicherchip wurde 2006 eingeführt, um Ärzten sowohl Notfall- als auch Arzneimitteldaten, Diagnosen und die vollständige Krankengeschichte an die Hand geben zu können. Die behandlungsrelevanten Daten erst andernorts recherchieren oder gar unnötige Doppeluntersuchungen vornehmen zu müssen, kostet Zeit. Manchmal zu viel Zeit.
Bislang aber fungiert die eGK ausschließlich als Versicherungsnachweis. Die Funktionen, für die sie einst geschaffen wurde, hat sie auch Ende dieses Jahres nicht. Die Informationen, die auf der eGK gespeichert sind, beschränken sich auf die Stammdaten des Patienten, also Name, Anschrift, Geburtsdatum sowie Versichertennummer und -status. Mit Hilfe dieser Daten kann der Arzt seine erbrachten Leistungen abrechnen. Die eGK stellt also nur administrative Daten zur Verfügung, jedoch keine medizinischen. Daneben weist die eGK ein Foto des Versicherten auf, das eine einfachere Identifizierung ermöglichen soll.
In seinem 45. Schwarzbuch, das der Bund der Steuerzahler unlängst veröffentlich hat, bezeichnet er die elektronische Gesundheitskarte wörtlich als „skandalöses Beispiel" für einen Fehlschlag im Bereich der digitalen Verwaltung. Elf Jahre nach ihrer Einführung könne die Karte immer noch nicht richtig genutzt werden. Seit ihrer Einführung wurden nach Angaben der Krankenkassen 1,7 Milliarden Euro investiert. Der Steuerzahlerbund geht sogar von 2,2 Milliarden Euro für Praxen, Kliniken und Krankenkassen aus. In diesem Jahr sollte die Umstellung aller Praxen und Kliniken auf die ursprünglich geplanten Anwendungsmöglichkeiten der eGK erfolgen – mit einer Verspätung von elf Jahren. Dazu erklärt der Steuerzahlerbund: „Da elf Jahre in der Software- und Hardwareentwicklung mehrere Technikgenerationen ausmachen, wird die eGK, wenn sie jemals umgesetzt wird, vollkommen veraltet sein".
Ein Chip mit allen Notfalldaten
Und: Auch bei flächendeckender Verfügbarkeit sei das System noch lange nicht leistungsfähig: „Viele der geplanten Anwendungen, wie die elektronische Fallakte, die Organspende-Erklärung, die Sicherheitsprüfung für Arzneimittel-Therapie oder die elektronische Patientenakte, befinden sich noch in der Entwicklung."
Der Steuerzahlerbund hat für sein aktuelles Schwarzbuch das Thema Digitalisierung in den Fokus genommen und fordert die künftige Bundesregierung zu einem schärferen Vorgehen gegen Verschwendung öffentlicher Gelder auf.
Karsten Glied ist Geschäftsführer der Bielefelder Techniklotsen GmbH, die sich auf maßgeschneiderte IT- und Technik-Lösungen für die Sozial- und Gesundheitswirtschaft spezialisiert hat. Auch er sieht die elektronische Gesundheitskarte als Fall von Steuerverschwendung an. Nach Glieds Meinung müssen „noch zahlreiche Gelder" fließen, um die eGK wirklich einsatzfähig zu machen.
Die Ursache, weshalb die Karte bis dato keine Diagnosen, Medikamentenverordnungen und die Krankengeschichte enthält, beschreibt Glied so: „Aufgrund zahlreicher divergierender Interessen entschied sich die Bundesregierung 2011, unter anderem auf Druck der Ärztetage, für eine Minimallösung der Karte, die nur wenige Daten der Patienten erfasst." Die Politik habe ihr ursprüngliches Vorhaben nicht selbstbewusst genug durchgesetzt und den auseinandergehenden Interessen der Selbstverwaltung zu schnell nachgegeben.
Die Karte sei eine digitale Karteileiche, die sich als teurer Flop entpuppe: „Und das nicht aufgrund fehlender technischer Möglichkeiten, sondern einzig und allein wegen der Uneinigkeit der betreffenden Verantwortlichen", betont Glied. Eigentlich war erwartet worden, dass das Bundesgesundheitsministerium die Karte nach der Bundestagswahl in der bisherigen Form fallen lässt. Doch in der Phase der Regierungsbildung passiert derzeit nichts.
Selbst wenn alle Notfalldaten auf der Karte gespeichert wären – viele Arztpraxen verfügen weiterhin nicht über technische Lösungen, die zum Auslesen der Daten benötigt werden. Um den Prozess zu beschleunigen, hat der Bundestag der Betreiberfirma Gematik Fristen gesetzt und mit Strafzahlungen gedroht. Auch Ärzte, die nicht aufrüsten, sollten ab 2018 mit Strafzahlungen rechnen.
Unterdessen werden die großen Krankenkassen aktiv und versuchen, die elektronische Krankenakte im Alleingang zu verwirklichen. Die AOK etwa setzt dabei auf ein dezentrales System, bei dem ihre 26 Millionen Versicherten ihre Gesundheitsdaten per App zur Verfügung stellen sollen. Die Techniker Krankenkasse, bundesweit die Nummer zwei, hat sich dagegen mit IBM zusammengetan. Es solle eine zentrale digitale Krankenakte umgesetzt werden.
Vor den Folgen dieser technischen Zersplitterung warnen allerdings die Ärzteverbände. Würde jede Kasse mit ihrem eigenen System starten, wären die Praxen restlos überfordert. Die Computer müssten dann verschiedene Systeme von Patientenakten verwalten können.
Jede Kasse mit eigenem System?
Was die Digitalisierung angeht, scheint es in Deutschland auch an anderer Stelle nicht rund zu laufen. Auch der sogenannte Neue Personalausweis, den die Bürger seit November 2010 nutzen können, hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. 61 Millionen Bundesbürger besitzen den Ausweis im Scheckkarten-Format mit Chip-Funktion, die sich etwa beim Bestellen eines polizeilichen Führungszeugnisses oder mancherorts sogar für das An- und Abmelden eines Autos via Internet nutzen lässt. Doch nur 30 Prozent der Ausweisinhaber haben die elektronische Funktion ihrer Karte freischalten lassen – und davon wiederum haben nur 15 Prozent die Funktion auch genutzt.
Ein durchschlagender Erfolg sieht anders aus. Nach einem Beschluss des Bundestages soll die Online-Funktion des Ausweises künftig immer freigeschaltet werden, sofern der Bürger nicht widerspricht. Damit kann jeder den Ausweis künftig als „Schlüssel" nutzen, um sich online auszuweisen.
Doch wie soll es mit der Gesundheitskarte weitergehen? „Fraglich ist ja, warum das Thema in Deutschland so isoliert betrachtet wird", sagt Karsten Glied. „Warum kann ich mich mit einem Personalausweis online identifizieren, aber die Gesundheitskarte ist ein separates System?" In Österreich seien an der eCard sowohl die Krankenversicherung als auch die Unfall-, Pensions- und Arbeitslosenversicherung beteiligt.