Die gebürtige Grazerin Irmtraud Lambertsen ist seit 34 Jahren Stadtführerin in Berlin. FORUM begleitete sie auf einer Bustour durch die Hauptstadt.
uten Tag, meine Damen und Herren, wir beginnen unsere Rundfahrt im Regierungsviertel. Links das Bundeskanzleramt. Die Architekten sind Axel Schultes und Charlotte Frank.“
Am Mikrofon: Irmtraud Lambertsen. Am Steuer: Olli Waldschütz. Im Bus: eine bayerische Reisegruppe. Auf geht’s, sagt Olli, und nickt der Stadtführerin zu. Die beiden sind gut aufeinander eingespielt.
Irmtraud Lambertsen führt seit 34 Jahren Reisegruppen, VIP-Gäste, politische Delegationen, Firmengäste und Schulklassen durch Berlin. Sie kennt die Stadt vor und nach dem Mauerfall, sie ist im Pergamonmuseum genauso zu Hause wie im jüdischen Berlin, hat einen Blick für Stadtplanung und Architektur und weiß alles nicht nur über das Schloss Charlottenburg, sondern auch über die Potsdamer Schlösser.
Dass sie mit Leib und Seele dabei ist, merkt man ihr sofort an. „Für mich sind Stadtführungen Entertainment auf hohem Niveau“, sagt sie. „Ich habe noch nie etwas nur abgespult, sondern bin immer mit voller Konzentration dabei.“ Ihr Angebot reicht weit über Bustouren hinaus: Sie gehört zum Guide-Pool für das Olympiastadion, führt Einzelgäste mit Limousine durch die Stadt, organisiert und plant Veranstaltungen und begleitet auch Schiffstouren. Führungen zu Fuß macht sie nur noch für kleine Gruppen. „Die Stadt ist laut, und ein drahtloses System mit Headsets ist einfach zu teuer.“
Der Bus gleitet jetzt durch die Chausseestraße, vorbei an der ehemaligen Wohnung von Wolf Biermann, und muss vor einer Baustelle scharf rechts ausweichen. Das quittiert Irmtraud Lambertsen mit einem ironischen Kommentar: „Meine Damen und Herren, wenn Sie Baustellen mögen, dann werden Sie von Berlin begeistert sein.“
Schon in den 1980er-Jahren, als sie von Wien nach Berlin kam, verdiente sich die in Graz geborene Österreicherin mit Bustouren ihren Lebensunterhalt. „Das war eine harte Schule: drei Mal am Tag in zwei Sprachen vom Kudamm zum Potsdamer Platz und zurück – da weißt du, was du getan hast.“ Sie hat in Wien und Berlin Geschichte und Kunstgeschichte studiert. Ihre Examensthemen? „Natürlich was mit Berlin: Friedrich der Große und als zweites die Berliner Bauausstellungen.“
Nach dem Examen setzte sie ihre Arbeit als Stadtführerin fort – aber jetzt auf einem ungleich höheren Niveau. „Der Beruf ist eigentlich nicht geschützt“, sagt Irmtraud Lambertsen, „deswegen habe ich mich von Anfang an für die Mitgliedschaft im Berlin Guide e. V. entschieden, den Berufsverband der Berliner Stadtführer.“ Der Verein definiert den „Gästeführer als Person, die Besucher in der Sprache ihrer Wahl führt und das kulturelle und natürliche Erbe eines Gebiets vermittelt“. Vorausgesetzt wird eine spezifische Qualifikation, die von den zuständigen Stellen ausgegeben und anerkannt wird. Berlin-Guide hat ein eigenes Ausbildungssystem entwickelt, das der Din-Norm der EU entspricht, und bietet Fortbildungen an. „Visit Berlin, das offizielle Tourismus-Portal, sucht sich die Gästeführer nach diesen Kriterien aus und besteht auf Nachweisen und Qualifikationen“, sagt Irmtraud Lambertsen. Die Kurse seien zwar freiwillig, aber es ist immer besser, wenn man so etwas nachweisen könne. Dazu kommen dann die Lizenzen, die von den Museen vergeben werden.
Am Hackeschen Markt verlangsamt der Bus seine Geschwindigkeit. „Schauen Sie mal in die Straßen hier rechts von uns – das ist das alte Berlin: kleine Häuser, gepflasterte Straßen. Hier liegt der alte jüdische Friedhof, wo Moses Mendelssohn, der Großvater von Felix Mendelssohn Bartholdy, begraben ist.“
Der Markt für Fremdenführer boomt dank der vielen Touristen, die Berlin besuchen. Dutzende Firmen bieten die ausgefallensten Touren auf sehr unterschiedlichem Niveau an. Manche arbeiten auf Provision mit den Hotels zusammen, es gibt sogenannte Free Tours, die nur vom Trinkgeld leben, Berlin mit Hund, „Mike’s sportliche Running Tour“ und natürlich auch die unsäglichen Touren durch die Pubs oder mit dem Bier-Bike.
Irmtraud Lambertsen hat eine eigene Webseite (www.guidepro-berlin.de). Sie ist dank ihrer langen Erfahrung gut vernetzt, die Gäste kommen auf sie zu, sie lebt von der Mund-zu-Mund-Propaganda: „Du musst breit aufgestellt sein als selbstständige Fremdenführerin, von ein paar Bustouren kannst du nicht leben.“ Seit zehn Jahren arbeitet sie als Honorarkraft für den Besucherdienst des Bundesrats und des Bundespresseamts. Für den Bundesrat organisiert sie unter anderem Planspiele mit Schülergruppen. Das ist politische Bildung vor Ort: Die Schüler schlüpfen im Plenarsaal in die Rolle der Ländervertretungen, arbeiten Anträge aus und debattieren sie im Plenum. Auch internationalen Gästen erläutert sie den föderalen Aufbau des politischen Systems in Deutschland.
Vor dem Bus erstrahlt nun der Fernsehturm im Gegenlicht. Deutlich zeichnet sich das spiegelnde Kreuz auf der verglasten Kuppel ab. „Wenn Sie da hoch fahren, werden Sie herumgedreht“, meint die Stadtführerin und lacht. „Vor der Wende nur einmal pro Stunde, heute sogar zweimal – es wurde nämlich ein neuer Motor eingebaut.“
Wie geht man mit Schülergruppen um, die ihre obligatorische Berlin-Sightseeing-Tour zu absolvieren haben? „Das Wichtigste ist, Respekt zu zeigen, sie nicht von oben herab zu behandeln oder belehren zu wollen“, sagt Irmtraud Lambertsen. „Wenn ihr Niveau niedrig ist, besteht die Kunst darin, die Dinge so herunterzubrechen, dass sie auf ihrer Ebene verstanden werden.“ „Niveau“ sei eigentlich gar nicht der richtige Begriff. „Du musst kapieren, dass für die 16- bis 17-Jährigen der Fall der Mauer genauso weit zurück liegt wie die Punischen Kriege – das fällt anders als bei uns nicht mehr in ihre Lebenszeit.“
Blick aus dem Bus an der Stelle, wo er die ehemalige Grenze nach Ost-Berlin passiert.
Sie hat mit der Zeit einen geschulten Blick dafür bekommen, was zu wem passt und wie sie über die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten reden muss. „Lehrer zum Beispiel wissen oft vieles besser“, lacht sie, „aber dann lasse ich sie eben besser wissen und halte mich zurück.“ Sie merkt auch schnell, wenn ihr das Publikum wegkippt. „Um das zu verhindern, verzichte ich weitgehend auf zu viele Jahreszahlen. Ich erzähle lieber Geschichten, da können sie mitgehen. Und Geschichten entstehen ja immer wieder neu. Die Stadt entwickelt sich weiter, sie präsentiert sich jeden Tag anders, ich kann eine Sache auf ganz verschiedene Weise erzählen.“
„Links die Preußische Staatsbibliothek, rechts der Bebelplatz, wo die Nazis die Bücher verbrannt haben. Dahinter das „Hotel de Rome“. In dem Gebäude war mal die Dresdner Bank. Im Wellness-Bereich ganz unten können Sie jetzt ihre Handtücher im ehemaligen Tresorraum ablegen.“
Immer auch ein Spiel mit der Zeit
Natürlich ist so eine Führung mit dem Bus auch eine Frage des Timings. Zwischendurch bekommt Olli, der Fahrer, unauffällig einen Wink, dass er jetzt abbiegen oder langsamer fahren soll. Irmtraud Lambertsen muss auch einkalkulieren, wann die nächsten öffentlichen Toiletten für die Pause zu erreichen sind, wann der Folge-Termin für ihre Gruppe angesetzt ist und welchen Umweg man nimmt, wenn mal wieder ein Stück Straße gesperrt ist. Es gibt Gäste, die eine sehr enge Timeline haben, etwa die „Kreuzfahrer“ von der Küste. „Die kommen von den Kreuzfahrtschiffen per Bus oder Bahn nach Berlin, haben zum Beispiel drei Stunden Zeit, dann müssen sie wieder zurück, sonst fährt ihr Schiff ohne sie weg. Wenn dann noch eine Demo dazwischen kommt oder eine Absperrung, die du nicht eingeplant hast …“
Auch so ist es immer ein Spiel mit der Zeit. „Kommt der Bus gut durch, hast du 20 Sekunden, um das Schloss zu erklären, dann kommt schon die nächste Sehenswürdigkeit. Stehst du im Stau, musst du auf einmal zehn Minuten über ein Gebäude oder eine Straße reden können. Dafür musst du die Stadt kennen wie deine Westentasche.“
„Wir befinden uns in der Karl-Marx-Allee, Zuckerbäckerstil, aber tolle Wohnungen. Die werden heute oft einzeln sehr lukrativ verkauft. Am Moskwa-Café rechts sehen Sie eine Nachbildung des ersten Sputniks, den die Russen ins Weltall geschossen haben – so klein war das Ding damals.“
Die Lust am Erzählen komme ihr beim Improvisieren, sagt sie, und betrachtet den Bus wie eine Bühne. Sie ist Schauspielerin, Geschichtenerzählerin, Historikerin und manchmal auch Entertainerin. Und nach drei Jahrzehnten immer noch mit so viel Spaß bei der Sache, dass es ansteckend wirkt. Ihre Motivation umreißt sie ganz kurz mit dem Satz: „Als ich hierher kam, hat mich Berlin mit offenen Armen empfangen. Da gebe ich gern etwas zurück.“