Eine Paddeltour bietet ganz neue Ausblicke auf Berlin. Die Spree darf zwischen Oberbaumbrücke und dem Kanzleramtssteg in Moabit nicht von Sportbooten befahren werden. So schlug unser Autor Andreas Burkhardt einen Bogen südlich um die City herum und schipperte auf dem Teltow- und Landwehrkanal.
Wer die üblichen Wege verlässt, bekommt einen anderen Blick auf die Stadt. Der fremde Blick auf das Gewohnte beginnt am Wasser, am Tempelhofer Hafen, an einem frühen Morgen, zu einer Stunde, als Berlin noch in den Federn liegt und genüsslich weiterratzt. Nur wenige Menschen sind auf den Straßen. Vereinzelt werden Rollos hochgezogen, Lichter angeknipst, Cafés startklar gemacht, erste Schlagzeilen sondiert. „Fünfzehnjähriges Mädchen im Kajak vom Weißen Hai attackiert.“ Nicht in unseren Breiten natürlich. In Australien. Und doch passt es. In einem Detail zumindest. Dem Kajak. Meins liegt zum Einsitzen bereit. Was nicht unbeobachtet bleibt auf den umliegenden Motorbooten. Eine Kajütentür wird vorsichtig geöffnet, eine Frau mit Morgenmantel und zerzausten Haaren schiebt ihr Gesicht durch die Tür: „Morjen, Junge, was haste vor, gehst du auf Tour?“ „Morjen“, erwidere ich, „ja, einmal mitten durch Berlin.“
Los geht’s, nach Backbord in den Teltowkanal! Im Schatten des ehrfurchtgebietenden Ullsteinhauses, das die jüdische Verlegerfamilie Ullstein 1927 errichten ließ und das mit dem 77 Meter hohen Backsteinturm erstaunliche 30 Jahre das höchste Hochhaus Deutschlands blieb, wird Fahrt aufgenommen Richtung Britz. Die ersten Kilometer gehören nicht zum Schönsten, was Berlin zu bieten hat. Und doch ist der Blick aus der Tiefe, aus der Grabenperspektive interessant. Industrie rechts und links des Wassers. Aber mittendrin auch kraftvolles Herbstlaub. Und sogar ein kleiner, terrassierter Weingarten. Vorbei an Industriedenkmälern wie dem kolossalen, den Kanal überspannenden Portalkran, der einst zum Entladen von Kohleschiffen genutzt wurde. Vorbei am legendären Sarotti-Schokoladenwerk, unter etlichen Brücken hindurch wie der, über die die Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn ratterte. Sie verband den Bahnhof Hermannstraße an der Ringbahn mit Mittenwalde in der Region Brandenburg. Schließlich passiert das Boot das Gelände des ersten West-Berliner Spaßbades „Blub“, dessen Niedergang 2002 ein Ratten-Alarm einleitete. Was irgendwie passt, gilt doch der Teltowkanal als dreckigstes Gewässer Berlins. Deshalb wundere ich mich über einen Angler, der an diesem Morgen am Ufer steht: „Sind denn die Fische genießbar, die trübe Brühe hier sieht nicht sehr vertrauenserweckend aus?“ „Ach, kein Problem“, nölt der Angler zurück, „Dreck reinigt bekanntlich den Magen.“
Nach knapp neun Kilometern kommt sie endlich, die Spree. Wieder geht es nach Backbord, in eine sich öffnende Landschaft. Das DDR-Funkhaus zieht vorbei. Das alte Kraftwerk Rummelsburg. Das ehemalige Ausflugsrestaurant „Eierhäuschen“, das schon Theodor Fontane lobte, aber auch als „sonderbar benamst“ empfand. Und, kurz bevor die Spree eine steile Westkurve beschreibt, der Plänterwald mit dem einstigen Vergnügungspark, der 2001 unter dubiosen Umständen insolvent ging. Seitdem verrottet das Gelände, auf dem das verwahrloste Riesenrad sich als stummer Zeuge noch ab und an mal dreht, wie von Geisterhand, durch den Wind.
Die Insel der Jugend kommt in Sicht, gefolgt vom Treptower Park und der luxusbebauten Halbinsel Stralau mit der mittelalterlichen und leicht schiefen Dorfkirche. Und endlich einmal, denn der Morgen gleitet allmählich in den Mittag hinüber, kreuzt ein anderer Paddler den Kurs. „Ahoi!“, tönt es herüber, und „Ahoi!“ tönt es zurück.
Aber was ist das auf einmal? Drei Männer. Mitten im Wasser. Genauer: auf dem Wasser. Gehend. Dazu haushoch. Die „Molecule Men“ – ein echter Hingucker! Eine 30 Meter hohe Drei-Personen-Skulptur aus gelochtem Aluminium, die an die Nahtstelle der drei Bezirke Kreuzberg, Friedrichhain und Treptow erinnern soll, auch wenn der Standort genau genommen nicht korrekt gewählt wurde, denn ein Kreuzberg gab es zu DDR-Zeiten immer nur an, aber niemals in der Spree. Genau dieses nur an wurde in den 70er Jahren mehreren Kindern aus Kreuzberg, die erst an der Spree spielten und dann hineinfielen, zum Verhängnis. Opfer einer eisernen Mauer aus Wasser! Den Ertrinkenden durfte von Westseite aus unter Androhung des Schusswaffengebrauchs nicht geholfen werden, und von den Grenzern auf der Ostseite wurde zur Rettung der im Wasser zappelnden kleinen Wesen bis Mitte der 70er-Jahre nichts bis zu wenig unternommen. Perfide Augenblicke, die einen noch perfideren Beigeschmack erhalten, denn die leblosen Körper wurden wie im Fall des fünfjährigen Çetin Mert auf die Ostseite verbracht, dort obduziert und den Eltern, so berichtete es der Vater Çetins, erst nach Zahlung von 10.000 Mark zurückgegeben.
Wende an einem der Wahrzeichen der Stadt, der Oberbaumbrücke mit der U-Bahn-Linie 1, denn ab hier ist für Sportboote die Weiterfahrt auf der Spree verboten. Die Alternative bietet der Landwehrkanal. Ein kleines Stück zurück geht es deshalb, bis auf Höhe des Arena-Badeschiffes zur Schleuse, wo mich bereits die Crew eines Hausbootes erwartet: „Du fehlst uns“, ruft eine junge Frau in bewusster Doppeldeutigkeit herüber, „wir müssen mindestens zwei sein, bis uns der Schleuser schleust.“ „Offen gestanden“, gebe ich verschmitzt und in Freude über die nun etwa 15 Minuten dauernde Schleusenpartnerschaft zurück, „du hast mir auch gefehlt.“
Einfahrt in den Landwehrkanal am Paul-Lincke-Ufer. Das hat Charme. Dafür hat ein Mann gesorgt, der wie kein anderer die Landschaften Berlins und Potsdams prägte, Peter Joseph Lenné. Preußens oberster Gartenkünstler, dem die Naherholung der einfachen Bevölkerungsschicht am Herzen lag, hatte am Kottbusser Ufer, so hieß das Paul-Lincke-Ufer lange Zeit, baumbestandene Uferpromenaden anlegen lassen. Ob diese allerdings ab 1850, dem Jahr, als der Landwehrkanal eingeweiht wurde, ausschließlich als Flanier- und Wohlfühlmeile genutzt wurden, darf angezweifelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass ein übler Fäulnisgeruch über den Straßen lag, denn die Abwässer der Häuser flossen mangels Kanalisation ungeklärt in den Kanal. Heute riecht es nach anderem. Auf Höhe der Thielenbrücke an der Glogauer Straße nach Marihuana. Und zwischen der Hobrecht- und Kottbusser Brücke nach den Garküchen des Neuköllner Wochenmarktes am Maybachufer.
Nach der Anker-Klause, früher ein schlichtes bierlastiges Etablissement, heute ein trendiges Szenelokal, kommt die Admiralbrücke in Sicht. Die schmiedeeiserne Bogenbrücke aus dem Jahr 1882 gehört zum Schönsten, was Berlin an Brücken zu bieten hat. Und Brücken, wird bei jedem Dampferausflug hartnäckig betont, hat Berlin ja bekanntlich mehr als Venedig. Ein krummer Vergleich.
Nach dem Krieg, erzählte mein Vater gerne, sprangen von der Admiralbrücke Kinder ins Wasser. Für ein paar Groschen ergötzten sie das Publikum. Nicht ohne Gefahr, denn der Landwehrkanal ist nicht sonderlich tief. Mit dem Paddel kann man mühelos den Grund berühren. Und wenn, wie es immer wieder vorkommt, irgendein Depp einen Einkaufswagen in den Kanal kippt, verwandelt sich das bisschen Tiefe zur halsbrecherischen Untiefe. Andererseits, wer springt heute noch in den Landwehrkanal? Im Sommer einige. Vor allem am nun folgenden Urbanhafen mit dem bekannten Krankenhaus. Und das trotz des nahen Prinzenbades.
Zwischen dem Alten Zollhaus und meinem Tagesziel, der Spree in Moabit, bevölkern Unmengen an Ruderbooten die Gewässer. Eine wahre Armada. Der Grund? „Heute ist Wanderrudertag“, klärt mich einer der Steuermänner auf, „wir kommen aus allen Teilen Berlins. Ziel ist der Urbanhafen, wo wir uns zum Picknick treffen – und“, vergisst er nicht zu ergänzen, „auf ein Bierchen.“
Wieder ein Ort des Erinnerns und des Innehaltens: die Lichtensteinbrücke in Hörweite der Zoo-Fasanerie. Sie erzählt die Geschichte Rosa Luxemburgs (1871–1919). Verhört, misshandelt, mit dem Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen, dann mit auf der Schläfe aufgesetzter Pistole erschossen, mit Stacheldraht umwickelt und hier in den Landwehrkanal geworfen. Der, der das Todeskommando anführte, Hauptmann Waldemar Pabst, rühmte sich noch 50 Jahre später dieser Tat: „Diese deutschen Idioten sollten Noske und mir auf den Knien danken, uns Denkmäler setzen und nach uns Straßen und Plätze benannt haben!“
Die „deutschen Idioten“ aber waren schlauer als der Hauptmann sich dachte. Sie setzten nicht den Tätern, sie setzten dem Opfer ein Denkmal.