Es gibt Menschen mit der Begabung, sich Gesichter mühelos merken und diese auch nach Jahren wiedererkennen zu können. Scotland Yard hat eine Spezialeinheit mit Super-Recognizern installiert, weil diese sogar modernste Software uralt aussehen lassen.
Als die Kölner Polizei bei der Suche nach den Tätern der kriminellen Übergriffe auf Frauen im Umfeld des Hauptbahnhofs in der Silvesternacht 2015/2016 an ihre Grenzen gestoßen war, erinnerte man sich im rheinischen Präsidium an eine Spezialeinheit, die von den Londoner Kollegen gerade erst ins Leben gerufen worden war. Daher wurde man bei Scotland Yard mit der Bitte vorstellig, die Arbeit der lokalen Ermittlungsgruppe durch die Hinzuziehung britischer Gesichtserkennungs-Experten deutlich zu verbessern. Die Kölner Beamten konnten nämlich nach der Auswertung von zahllosen Videos und Bildern von Überwachungs- und Handykameras mit einem Datenvolumen von 272 GB kaum Fahndungserfolge vermelden.
Das änderte sich schlagartig, nachdem zwei sogenannte Super-Recognizer am Rhein eingetroffen waren, die über eine ganz besondere, angeborene Begabung verfügen: Sie können sich ein Gesicht auf Anhieb merken und dieses auch nach Jahren und allen möglichen Veränderungen infolge von Älterwerden oder Facelifting wiedererkennen. Selbst nach einmaligem flüchtigem Sehen, egal ob auf einem Foto oder auf der Straße, wird bei ihnen ein Gesicht gewissermaßen auf die Gedächtnis-Festplatte eingebrannt und kann bei Bedarf jederzeit abgerufen werden. Selbst Gesichter, die nur unscharf oder verschwommen wahrgenommen werden können, wie es auf einem Großteil der Kölner Videoaufnahmen der Fall war, können im Gehirn dieser Experten so abgespeichert werden, dass die Personen beispielsweise beim Abgleich mit einer Verbrecher-Bild-Datenbank herausgefiltert werden können. Das kann bislang keine noch so gute Gesichtserkennungs-Software, weil diese auf perfekte, hochauflösende, im optimalen Winkel aufgenommene Vorlagen angewiesen ist. Die beiden in Köln tätigen Super-Recognizer namens Eliot Porritt und Andy Eyle konnten schon nach zwei Wochen mehrere Verdächtige identifizieren. Sie waren folgendermaßen vorgegangen: Zunächst hatten sich die beiden Polizisten die Gesichter der Frauen eingeprägt, die Anzeige erstattet hatten. Danach verfolgten sie genau diese Frauen auf den Überwachungsvideos bis zu dem Zeitpunkt, als sich der oder die Täter genähert hatten. Nachdem sie deren Gesichter registriert hatten, konnten sie diese mit vorliegenden Fahndungsfotos vergleichen.
Selbsttests im Internet sind unzureichend
Man weiß bislang sehr wenig über die individuelle Gesichtserkennungs-Begabung. Kein Wunder, wurde sie doch erst 2009 entdeckt und seitdem sind gerade mal ein halbes Dutzend Studien zu diesem Thema durchgeführt worden. Der amerikanische Wahrnehmungspsychologe Richard Russel von der Harvard University war 2009 rein zufällig auf das Phänomen gestoßen. Denn eigentlich wollte er das genaue Gegenteil erforschen, die Gesichtsblindheit, auch Prosopagnosie genannt. Dabei handelt es sich um ein Leiden oder um eine angeborene Schwäche, die es Menschen erschwert oder gar ganz unmöglich macht, selbst nahestehende Personen wiederzuerkennen. Im Verlauf der Forschungsarbeiten meldeten sich Bürger, die das Gegenteil von sich behaupteten, sprich, die vorgaben, dass sie sich Gesichter ganz besonders gut merken könnten. Vier dieser Personen wurden daraufhin besonderen Tests unterzogen. Sie mussten beispielsweise Kinderfotos von Prominenten den Aufnahmen von ihnen als Erwachsene zuordnen. Und tatsächlich stellte sich heraus, dass sie in Sachen Gesichtserkennung deutlich besser als der Durchschnitt lagen. Russel veröffentlichte das Ergebnis dieser Mini-Studie gemeinsam mit seinem Harvard-Kollegen Ken Nakayama und mit Brad Duchaine vom University College London im April 2009 im Fachblatt „Psychonomic Bulletin & Review".
Im Internet kursieren inzwischen Tests, mit denen angeblich jeder feststellen kann, ob er womöglich ein Super-Recognizer ist, wie Russel & Co. ihre Probanden in besagtem Artikel getauft hatten. „Die meisten Menschen mit dieser Begabung wissen es gar nicht", so die Einschätzung von Josh Davis, einem renommierten Wissenschaftler der englischen University of Greenwich, der sich auch als Experte für forensische und Kriminalpsychologie einen Namen gemacht hat. Manche Personen hätten allerdings als TV-Zuschauer schon mal ein Aha-Erlebnis, weil ihnen plötzlich auffällt, dass sie sich anders als ihr Umfeld die Gesichter von Schauspielern merken können, die nur in winzigsten Nebenrollen zu sehen waren. Die Tests sind übrigens wenig aussagekräftig, weil die Forschung noch in den Kinderschuhen steckt. „Ein valides Testinstrument muss an einer großen Anzahl positiver Probanden validiert werden, um zuverlässig zu sein", so die Neurowissenschaftlerin Meike Ramon von der Universität Fribourg in der Schweiz. „Das aber kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht passiert sein."
Ramon hält auch wenig von den durch diverse Wissenschaftler in Umlauf gebrachten und in der Presse wiederholten Zahlen zum Vorkommen der Begabung in der Bevölkerung. Mal ist von einem Prozent die Rede, mal sollen es zwei Prozent sein. Vermutlich wird die Fähigkeit genetisch vererbt, das glaubt jedenfalls die Psychologin Sarah Bate von der britischen Bournemouth University. Auch habe es nach jetzigem Stand der Forschung weder etwas mit einem guten Gedächtnis noch mit einem hohen Intelligenzquotienten zu tun, sondern mit jenem Hirnareal, das Gesichter verarbeitet. Was dabei genau passiert, ist unklar. Bates Bournemouth-Kollegin Anna Bobak weist darauf hin, dass Menschen in der Regel ganzheitliche Verarbeitungsstrategien benutzen, um ein Gesicht zu erkennen. Dabei werden innerhalb von Millisekunden die Gesichtsproportionen abgeglichen und die Abstände der einzelnen Gesichtszüge berechnet. Die dafür erforderlichen Augenbewegungen und die Bearbeitung der Infos sollen bei Super-Recognizern wohl besonders effizient ablaufen. Zudem hat Boback die These aufgestellt, dass die Super-Recognizer ihr Gegenüber unbewusst ganz anders taxieren: „Während die meisten Menschen ihrem Gegenüber in die Augen schauen, blicken Super-Recognizer auf die Nase. Sie orientieren sich also stärker in der Gesichtsmitte. Schaut man nur auf die Augen, entgeht einem der untere Gesichtsteil. Geht man von der Gesichtsmitte als Blickfixpunkt aus, kann man die Form, Größe und Position von Nase, Mund und Augen von diesem zentralen Punkt aus besser miteinander vergleichen." Ebenfalls noch völlig offen ist, ob das Super-Recognizing eine Spezialbegabung ist oder ob es nur das obere Ende eines Spektrums ist, das eben von Gesichtsblinden bis hin zu Super-Recognizern reicht.
Von Gesichtsblinden bis zu Super-Recognizern
Bei der Londoner Polizei hatte man Russels Forschungen schon 2009 aufmerksam verfolgt. Wahrscheinlich auf Hinweis von Josh Davis hin, der seit jeher eng mit Scotland Yard im Bereich Gesichtserkennung zusammenarbeitet. Scotland Yard begann daraufhin, seinerseits zu ergründen, welche Mitarbeiter sich in den vergangenen Jahren bei der Identifizierung von Tätern anhand von Überwachungsvideos besonders hervorgetan hatten. Schnell stellte sich heraus, dass es sich immer um die gleichen Beamten handelte. Daraufhin durchgeführte psychologische Tests bestätigten, dass es sich dabei nicht etwa um ein Motivationsproblem anderer, nicht so erfolgreicher Mitarbeiter handelte, sondern dass bestimmte Polizisten einfach überdurchschnittlich gut Gesichter erkennen konnten.
Das machte man sich nach den schweren Londoner Krawallen mit Brandanschlägen, Plünderungen und Vandalismus vom August 2011 zunutze. Nach Versagen der Computer-Gesichtserkennung wurden die hauseigenen Super-Recognizer ganz gezielt zur Auswertung des 200.000 Stunden Video-Überwachungsmaterial eingesetzt. Ein Constable namens Gary Collins konnte allein 180 Täter identifizieren, wofür ihm sogar die „New York Times" ein ausführliches Porträt widmete. 2015 wurde schließlich bei der Londoner Polizei offiziell eine Spezialeinheit von Super-Recognizern aufgestellt, „die erste ihrer Art auf der Welt", so Davis, zu der innerhalb kurzer Zeit schon mehr als 150 Beamte zählten. In naher Zukunft soll es ähnliche Expertenteams in den Grafschaften Lancashire und Dorset geben. In der Bundesrepublik ist nichts Vergleichbares geplant. Dafür macht der Psychologe Claus-Christian Carbon mit Spezialgebiet Gesichtserkennung von der Universität Bamberg die unzureichende Zusammenarbeit zwischen hiesiger Polizei und Wissenschaft verantwortlich: „Meiner Meinung nach wird bei der Polizei zu wenig Wert auf Forschung gelegt."