Die überraschende Freilassung des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner aus türkischer Haft wirft Fragen auf. Vor allem eine: Wo war eigentlich Bundeskanzlerin und Jamaika-Verhandlerin Merkel?
Drehbuchreif soll es in Ankara zugegangen sein, beim Geheimtreffen von Altkanzler Gerhard Schröder und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Bei türkischem Tee soll Schröder Erdogan weichgeklopft haben. Schließlich habe dieser seinen Justizminister angewiesen, zumindest einen Teil der Amnesty-Gefangenen freizulassen. Zur gleichen Zeit weilte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Arbeitsbesuch in Moskau und hatte dort eine fast zweistündige Unterredung mit Wladimir Putin unter vier Augen. Auch dort sollen die deutschen Gefangenen in der Türkei Gesprächsgegenstand gewesen sein. So wird die Geschichte zumindest aus dem Umfeld von Außenminister Sigmar Gabriel kolportiert. Es wurde dabei genau darauf geachtet, dass der Eindruck entsteht, die Kanzlerin wartet ab, und der Gerd krempelt die Ärmel auf.
Es war dann der Außenminister höchstpersönlich, der die Geschichte von Schröders Geheimdiplomatie auch noch bestätigte. Im Auswärtigen Amt rauften sich die höheren Beamten die Haare. ARD und ZDF sprachen unisono von einem „diplomatischen Coup“. Doch ein Coup ist nur ein echter, wenn er dann auch geheim bleibt, wie seinerzeit der Raketendeal zwischen Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy während der Kubakrise 1962.
Doch an Geheimhaltung hatte offenbar vor allem der Altkanzler überhaupt kein Interesse. Noch vor vier Wochen war er in der Öffentlichkeit für seinen neuen Job beim russischen Ölkonzern Rosneft scharf kritisiert worden. Darum, tue Gutes und vor allem sprich darüber, so Schröders Devise. Das Sprechen übernahm dann sein alter Kumpel Sigmar Gabriel. Der türkische Justizminister Abdülhamit Gül dementierte umgehend die Geschichte: „Die türkische Justiz ist unabhängig und neutral. Diese Behauptung (vom Wirken Schröders, Anm. d. Red.) hat nichts mit der Realität zu tun.“ Doch das half nun auch nicht mehr, zumindest in Deutschland gibt es scheinbar einen weiteren Beweis, dass die türkische Justiz nicht unabhängig ist, sondern Erdogan untersteht.
Aus Sicht des Auswärtigen Amts ist der vermeintliche diplomatische Coup damit aber zu einem außenpolitischen Fiasko geworden. Die türkischen Zeitungen liefen die Tage drauf, wie zu erwarten, Sturm, dem deutschen Außenminister wurde die Verbreitung von Fake News unterstellt.
Doch in der Hauptsache stand Gerhard Schröder mal wieder als der Macher da. Warum der Menschenrechtler Peter Steudtner tatsächlich aus der Haft entlassen wurde, ist bislang nicht wirklich zu erfahren. Doch allein der Umstand, wie die Geschichte das Licht der Öffentlichkeit erblickte, ist bizarr. Denn die drei Protagonisten, Bundespräsident, Außenminister und Altkanzler sind alte Freunde und kennen sich aus dem Krökelkeller in Hannover. Hannöversch „krökeln“ steht für Fußballkicker spielen. Die drei haben das zu Beginn ihrer politischen Karriere in Niedersachsen unheimlich gern gemacht. Nun machen die drei aus dem Krökelkeller deutsche Außenpolitik, und die Kanzlerin schaut dem Treiben unbekümmert zu. Sie scheint derzeit mit den Jamaika-Sondierungen vollauf beschäftigt zu sein.
Der Eindruck entstand bereits während des EU-Gipfels in Brüssel vor drei Wochen. Merkel ließ jede Initiative vermissen, offenbar auch, weil ihr durch die Jamaika-Gespräche in Berlin die Hände gebunden sind. In den Fällen Peter Steudtner und Deniz Yücel hatte Merkel zwar immer wieder die Rechtsstaatlichkeit der Türkei bezweifelt und noch auf ihrer So
Im Kanzleramt war Schröder Anfang September vorstellig geworden, hat die Kanzlerin offenbar von seinen Reiseplänen unterrichtet. Die Initiative scheint dabei vom Altkanzler ausgegangen zu sein. Beobachter halten es für relativ unwahrscheinlich, dass Angela Merkel Schröder nach Ankara schickt, um im Fall Steudtner Einfluss auf Erdogan zu nehmen. Den nun entstandenen Eindruck, dass Merkel die Außenpolitik aus den Händen gleitet und sie auf die Mithilfe der „Drei aus dem Krökelkeller“ angewiesen ist, nimmt sie offenbar in Kauf.
Im Kontakt oder auf Konfrontation?
Wobei es auf lange Sicht in puncto Türkeipolitik für Merkel eigentlich nach Plan läuft, denn die CDU-Chefin hat immer eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei abgelehnt und sich bereits 2004 für eine „privilegierte Partnerschaft“ ausgesprochen. Dafür musste sie sich vor 13 Jahren vor allem von Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Grünen-Außenminister Joschka Fischer viel Kritik gefallen lassen. Doch in den vergangenen vier Jahren sind Merkels Hinweise betreffend der EU-Tauglichkeit der Türkei voll bestätigt worden. Selbst die Grünen haben sich von einer EU-Vollmitgliedschaft einstweilen verabschiedet. Parteichef Cem Özdemir hat zwar jüngst vor einem kompletten Abbruch der Gespräche gewarnt, gehört aber gleichwohl zu den schärfsten Kritikern der türkischen Regierung und gilt dabei als sehr authentisch. Schließlich stammen seine Eltern aus dem Land am Bosporus.
Der jüngste Schulterschluss in der Türkeifrage zwischen dem Grünen-Chef und der Kanzlerin wird aber sowohl in der Union als auch bei den Grünen kritisch gesehen. In der Union wird immer wieder darauf verwiesen, dass die Türkei einer der wichtigsten Nato-Partner und als militärisches Schild gegen Russland unverzichtbar sei. Dass die Deutschen ihren Luftwaffenstützpunkt im türkischen Incirlik räumen mussten und im Oktober nach Jordanien ausgewichen sind, wird dabei in den entsprechenden Unionskreisen allerdings gern übersehen. Mehrfach hatte ja die türkische Regierung den Bundestagsabgeordneten einen Besuch auf der Airbase verweigert. Bei den Grünen stößt die Haltung ihres Vorsitzenden auf Unverständnis. Gerade der Menschenrechtsflügel befürchtet, dass bei einem Konfrontationskurs der Kontakt zur Opposition in der Türkei komplett verloren geht. Doch umgekehrt hält Grünen-Chef Özdemir dagegen, dass die Türkei in den vergangenen drei Jahren jegliche demokratische Legitimation verloren hat.
Doch sowohl bei den Grünen als auch bei der der CDU gilt, es gibt einen beträchtlichen Teil von türkischstämmigen Wählern in Deutschland, die unter keinen Umständen verprellt werden dürfen. Vor allem die CDU hat bei der jüngsten Bundestagswahl laut internen Analysen gut und gern eineinhalb bis zwei Prozent Wähler aus diesem Spektrum verloren. Darum hält sich die Bundeskanzlerin offenbar bei Türkeifragen gern ein bisschen zurück. Und wenn es sein muss, überlässt sie das Feld dann auch mal den „Drei aus dem Krökelkeller“.