Die Ausrichtung im „Riogrande" in Kreuzberg ist alpenländisch geprägt. Chefkoch Tilo Roth, Dietmar Schweitzer und Edith Berlinger bieten aber weit mehr als „nur" Wiener Schnitzel.
Grüße von mir!", ruft uns der Küchenchef zu. Tilo Roth lässt es sich nicht nehmen, seinen Gästen Hallo zu sagen, bevor der Run auf die 120 Plätze im „Riogrande" losgeht. Dabei sind wir doch noch ganz versunken in den Ausblick auf Wasser, blaue Stunde und Spree-Skyline an der Oberbaumbrücke! Aber wenn „der Neue" ruft, dann widmen wir gern unsere Aufmerksamkeit unverzüglich der kleinen Pfifferlingsterrine auf Pumpernickel-Scheibchen. Wir fühlen uns mit Herbstaromen, Buchenpilz-Mikado und Feldsalatblättchen obenauf aufs Schmackhafteste gegrüßt. Gut, dass so ein Happs zum Rheinhessen-Sekt sich, ohne unhöflich zu wirken, beim Plausch mit dem Küchenchef verspeisen lässt.
Neu ist nur die Wirkungsstätte für Tilo Roth – das direkt am May-Ayim-Ufer gelegene „Riogrande". Nicht aber die Chefin, Edith Berlinger. „Edith und ich kennen uns seit 20 Jahren", sagt Tilo Roth. Die Österreicherin ist seit 27 Jahren zusammen mit ihrem Mann, Dietmar Schweitzer, ein Begriff in der Kreuzberger Gastronomie. Sie eröffnete das „Altenberg", das „Jolesch" und das „Horváth". Junge Köche wie Stefan Hartmann und Sebastian Frank verfolgten von dort aus ihren Weg in die Spitzengastronmie weiter; Frank wurde soeben als „Berliner Meisterkoch 2017" ausgezeichnet.
Es traf sich gut, dass die eine ihr kulinarisch versiertes Auge auf den anderen geworfen hatte. „Wir sind sehr froh, dass Tilo da ist", sagt Edith Berlinger. Roth wiederum führten erst ein Dreivierteljahr nach Eröffnung der ersten von ihm selbst mitbetriebenen „Gaststätte am Ufer" seine Wege vom Landwehrkanal zwei Ecken weiter an die Spree. Die Gourmets in der Stadt schätzen Tilo Roths filigrane, aber unkomplizierte Handschrift. „Die Abendkarte auf Vordermann bringen", lautet die Mission des bereits aus dem „The Grand" bekannten Küchenchefs nun seit Anfang September im „Riogrande". Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat und Rindergulasch mit Semmelknödel dürfen in dem alpenländisch geprägten Restaurant bleiben, werden aber mit etwas mehr Eleganz und Produktverliebtheit auf Rothsches Niveau gehoben. Sie sind die Küchen-Klassiker, derenthalben selbst spätabends Touristen kommen, wie er beobachtete.
Wir können nur ahnen, warum ausgerechnet der Klassiker der österreichischen Küche stilprägend für einen Deutschlandbesuch ist. Berlin – anything goes in SO 36? Wir denken das nicht zu Ende. Denn wir bekommen die schickeren und spannenderen, vom Küchenchef neu entwickelten Gerichte auf den Tisch und beobachten die neugierigen Blicke unserer Nachbarn hinter ihren Schnitzel-Tellern. „Eine Gurken-Tartanbahn", entfleucht es mir. Darauf Kügelchen von Lachs- und Hechtkaviar und am Ziel ein Taler angebeiztes Lachstartar mit Papaya-Hack obenauf. Wir sprinten Gabel für Gabel auf der Zwanzig-Zentimeter-Strecke zum Finish: Papaya-Stückchen, die den qualitätsgesiegelten „Lable rouge"-Lachs fruchtig, aber nicht süß abrunden. Transparente, feuchte Gurke vereint sich mit der meerigen Note vom Kaviar. „Das könnte ich jeden Tag essen", seufzt die Begleiterin. Ich auch. Dazu ein Glas von einem 2016er Riesling von Battenfeld Spanier, und alles ist schön. Wir bleiben in Rheinhessen und bei Steinobst-Noten, die von etwas Mineral und Kräutern umflort werden. Der Riesling ist eine weiche, runde und trinkfreudige Empfehlung der Chefin.
Wechselnde Ausstellungen im Restaurant
Tilo Roth hat derweil in seinem Reich die nächsten Gänge für uns und die anderen Gäste angerichtet. Schlag auf Schlag hat sich das Restaurant gefüllt. Gruppen haben im weitläufigen Mittelraum mit den bodentiefen Rundbogenfenstern und Panoramablick Platz genommen. Mit dem Neu-Entstehen eines ganzen Stadtviertels und der Ansiedlung vieler Unternehmen auf der Friedrichshainer Seite und in Kreuzberg sind deren Mitarbeiter regelmäßig zu Gast. Seine Eins-A-Lage direkt am Wasser, und die 80-Meter-„Rennstrecke" mit den schmalen, ruhigeren Seitenbereichen und großem Mittelraum verdankt das 2010 eröffnete „Riogrande" den Preußen. Die beiden Freitreppen führten früher zur „Dampferstation Schlesisches Tor", wie eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie an der Wand zeigt. Kaiser Wilhelm II. zuliebe wurde eine Allee als Zufahrt angelegt. Sie säumte zu Mauer-Zeiten eine der verschlafensten Randstraßen im Kiez, an deren Zäunen am Ufer der Aufenthalt lebensgefährlich werden konnte. Wer ins Wasser fiel, ertrank, weil nicht geklärt war, ob und welche Seite gefahrlos retten durfte. Die Sektorengrenze zu Ostberlin verlief direkt vor den Treppen, und die Ausläufer des kalten Krieges forderten so im Kiez mehrere Kinderleben.
An zwei Terrassen mit jeweils 90 Plätzen, Familienfeste, Betriebsfeiern oder Filmpremieren mit Spreeblick war damals nicht im Entferntesten zu denken. Erst die Sanierung der Doppelkai-Anlage bis 2010 durch den Senat machte den Ort nutzbar. Das Restaurant wurde unter den Treppen eingebaut. Es verwundert nicht, dass Edith Berlinger und ihr Mann im „Riogrande" wechselnde Ausstellungen von Künstlern, die zum Thema Wasser arbeiten, Raum geben. Gerade zeigt die Malerin Bettina Düesberg ihre Ansichten in „Mercury".
Ganz gegenwärtig lugt ein grauer Jungschwan auf den mit Topfen und Spitzkohl gefüllten Blätterteig auf dem Teller. Hallo, wo sind die Erziehungsberechtigten? Gut, dass wir durch die Fensterscheibe vom cruisenden Youngster getrennt sind. Sonst läge das gute „Hillmann"-Brot vom Steglitzer Qualitätsbäcker nicht mehr im Körbchen. Womöglich hätte auch der strudelige Streifen mit Pfifferlingen und getrockneten Marillen auf Selleriepüree einen weiteren vegetarischen Fan gefunden? Auch den Grauburgunder „Qvinterra" von Kühling-Gillot trinken wir auf jeden Fall lieber selbst. „Sehr komplex und spannend", sagt die Begleiterin. „Sehr vielschichtig und mit guter Säure." Der Fotograf hat bald mit dem Ablichten eines Bachsaibling-Filets mit zweierlei Blumenkohl, fein gewürfelten Risolee-Kartoffeln, Zuckerschoten und wildem Brokkoli mehr als genug zu tun. „Oh, ich habe schon zu viel Wein getrunken, ich komme meinen Aufgaben nicht nach", bemerkt die Begleiterin.
Ab 10 Uhr wird Frühstück serviert
Die Freundin muss im dem Teint schmeichelnden, aber fotografisch schwierigen Schummerlicht den „Servietten-Reflektorhalter" geben, während ich bereits von meinem Teller naschen darf: Roh gebratener Blumenkohl und ein Püree daraus entlocken mit gegensätzlichen Texturen den Röschen karamellig-knackige sowie cremig-milde Nuancen. Krustentierschaum unterstreicht luftig den Geschmack vom Lachsfisch. Trug Tilo Roth seit Langem und zu Recht den Titel des „Fleischverstehers", so füge ich den des „Fischverstehers" hinzu. Mit aneckenden oder harmonierenden Zutaten, mit Reduzierung oder Verdoppelung spielt er mit Aromen und Strukturen des Hauptproduktes. So gibt’s mit jedem Bissen, Neues im Mund zu erleben. Das macht Spaß beim Essen, ohne zu verkünstelt zu sein. Es lohnt der Blick auf die untersten zwei Zeilen der Abendkarte: Mit einem drei- oder viergängigen Überraschungsmenü für 35 oder 41 Euro macht sich Tilo Roth im „Riogrande" bekannt. Die Hauptgerichte liegen à la carte bei 18,50 bis 28,50 Euro; die Vorspeisen zwischen neun und 15,50 Euro. Nicht jedem ist bekannt, dass das „Riogrande" auch bei Tageslicht seinen kulinarischen Reiz hat. Ab 10 Uhr wird Frühstück serviert, das Kaffeehausflair gibt’s zum Spreeblick und zu Zeitschriften dazu. Mittags, wenn’s rasch und leicht zugehen soll, wird ein Zweigänge-Menü für 8,90 oder ein Dreigänge-Menü für 10,90 Euro angeboten. „Das kann dann auch ein Hühnerfrikassee sein", sagt Tilo Roth, „aber so ein richtig stückiges und frisches."
Wir dürfen am fortgeschrittenen Abend beim Wild endgültig ins gepflegte Genusskoma fallen. Rosa gebratenes Rückenfilet und geschmorte Schulter in intensivem Jus zeigen, wozu Küchenchef und ein „Zweierlei vom Hirschkalb" fähig sind. Mohn-Schupfnudeln, Topinambur-Ragout und Rosenkohl-Blättchen mit einigen knackig-frischen Granatapfelkernen sind tellergewordener goldener Oktober mit einer Ahnung von Seidenstraße. Mit einem Schluck vom körperreichen 2015er Blauen Zweigelt von Salzl dazu macht das Alpenland klar, wo die Trauben hängen – in diesem Fall in Illmitz im Burgenland. Mit seinem neuen Küchenchef und dem „Riogrande" bringt Österreich sogar das Kunststück zuwege, sich leger und in unaufdringlicher Eleganz direkt an der Spree zu befinden. Mitten im internationalen Kreuzberg – wo auch sonst?