Unterwegs auf dem Karnischen Höhenweg – ein „Friedensweg“ durch Millionen Jahre Erdgeschichte.
Am Himmel schwebt ein Kolkraben-Pärchen. Die schwarz gefiederten Vögel kennen keine Grenzen; sie fliegen mal über Europa, dann kreisen sie wieder über Afrika. Die Wanderer in den Bergen unter ihnen machen es ebenso: Sie stiefeln, mit Rucksäcken beladen, zwischen den Erdteilen hin und her. Auf dem Karnischen Höhenweg ist das möglich: geologisch gesehen. Vor 365 Millionen Jahren krachten hier der afrikanische und der europäische Kontinent ineinander. Der enorme Druck presste Steine, Pflanzen und Muscheln nach oben wie eine überschüssige Ladung Zahnpasta. Die Karnischen Alpen liegen auf der sogenannten peri-adriatischen Naht, die vom Mittelmeer bis Ungarn verläuft. Geologen zählen das Grenzgebiet zwischen Italien und Österreich zu den interessantesten Regionen der Erde. Nirgendwo sonst in Europa können sie auf so engem Raum so viele unterschiedliche Steinarten und Fossilien finden. Viele Pflanzen haben hier zwei Arten entwickelt: Die behaarte Alpenrose wächst zum Beispiel auf Kalk, die rostrote auf saurem Boden. Unterwegs erklären die Schautafeln des „Geotrails“ geologische Vorgänge und zeigen, wo im Fels Korallen und See-Lilien versteinerten.
Für die rund 150 Kilometer lange Strecke von Arnoldstein bis Sillian braucht man ein bis zwei Wochen, je nachdem wie intensiv man die Erdgeschichte studieren will und wie viele der über 2.000 Meter hohen Gipfel am Wegesrand man erklimmen möchte. Im Osten verläuft der Weg über sanfte Berghänge und bunte Almwiesen, durch die Garnitzenklamm mit ihren rauschenden Wasserfällen, über das steinige Valtentintörl hinunter zum romantischen Wolayersee. Die Felswände an dessen Ufer erkannten Experten als versteinertes Korallenriff. Im Westen balanciert man über Geröll, das steile Felsflanken Richtung Tal spuckt. Dabei locken nicht nur auf den Gipfeln Panorama-Aussichten. Auch auf dem Höhenweg blickt man auf die mächtigen Felsnasen der Dolomiten.
Am Abend hüllt die untergehende Sonne die Berge in Schatten. In der bewirtschafteten Hütte am Obstansersee sitzt eine Gruppe Wanderer, futtert Schweinsbraten, Spinat-, Speck- und Kas-Knödel. Sie prosten sich mit Weißbier und Bärenwurz-Schnaps zu und tauschen mit den anderen Gästen persönliche Abenteuer und Blasenpflastergeschichten aus. Um 22 Uhr herrscht Bettruhe. Wer allergisch gegen Schnarchen und Tütenrascheln ist, verzichtet am besten auf das nächtliche 20-Personen-Matratzenlager und bucht gleich ein Doppelzimmer auf italienischer Seite. Mag sein, dass man dadurch die raue Begrüßung des ein oder anderen Hüttenwirtes – „Schuhe aus im Lager“ – verpasst; dafür wird man von der Mamma des italienischen Hauses geherzt und umsorgt, bekommt Grappa statt Bärwurz, Spaghetti und Polenta statt Schweinebraten.
Am nächsten Morgen wagen sich die Wanderer auf den Klettersteig des 2.686 Meter hohen „Großen Kinigat“. Gerade hangeln sie schnaufend an der Drahtseilsicherung, als sich ein braungebrannter Mitt-Sechziger zu ihnen umdreht. Er streckt seine Hand aus und zieht jeden nacheinander Schritt für Schritt hoch. Wastl, der vitale Bergsteiger mit kernigen Falten im Gesicht und Edelweißmotiv auf dem Stirnband, hilft anderen gern. Schließlich läuft er 30 Mal im Jahr hier rauf und kennt sich aus. Oben kramt er Bananen und Puffreis aus seinem Rucksack, reicht Birnenschnaps im Flachmann rum und zählt die Namen der umliegenden Berge auf. „Und wie heißt der da?“, fragt eine Gipfelkraxlerin und zeigt auf das Massiv, dessen verwitterte Felsfinger mahnend in den Himmel ragen. „Keine Ahnung, der ist auf italienischer Seite“, lacht der Bergliebhaber. Dann packt er seine Proviantreste wieder ein. „Bleibt’s brav und Pfiats euch“, verabschiedet er sich und klettert geschickt über die weißen Kalksteine Richtung Westen ab. Die Gruppe bleibt noch eine Weile auf den sonnenwarmen Steinen sitzen und genießt die Aussicht. Über ihnen neckt sich das Kolkrabenpärchen. Die meisten Paare sind monogam und bleiben einander ein Leben lang treu. Schon seit Tagen begleiten die beiden die Wanderer, so als würden sie ihnen ihr wunderschönes Revier zeigen wollen. Der Wind zerrt nun kräftig am Gipfelkreuz. Es trägt die Inschrift: „Nie wieder Krieg“.
Restaurierte Schützenanlagen
Wo heute Kuhfladen auf die Wiesen platschen, kämpften im Ersten Weltkrieg Soldaten um ihr Leben. Der Karnische Kamm wurde zum Frontgebiet, als Italien 1915 Österreich-Ungarn den Krieg erklärte. Überall entlang des Höhenweges sieht man noch Schützengräben und Felshöhlen, die als Bunker dienten. Drei Jahre lang mussten Tausende Männer Lebensmittel und Waffen heraufschleppen und bei jeder Temperatur in den Bergen ausharren. Abgesehen von den Kriegsopfern erfroren viele im Winter oder starben unter Lawinen begraben. An einem kleinen See am Hochgräntenjoch liegt auf 2.429 Metern über dem Meeresspiegel der höchstgelegene Kriegerfriedhof der Ostalpen. Und wohl auch der kleinste: Vier Soldaten wurden hier begraben.
Im Jahr 1993 hatte Oberst Prof. Walther Schaumann die Idee, aus dem ehemaligen Kriegspfad einen Friedensweg zu machen. Sein Motto: „Wege, die einst Völker trennten, sollen uns jetzt verbinden“. Auf seine Initiative restaurierten die Mitglieder des Vereins der Dolomitenfreunde alte Schützenanlagen und befestigten Bergpfade. 2.400 Freiwillige aus 15 Nationen halfen ihnen dabei. Am Plöckenpass, der im Krieg besonders umkämpft war, errichteten sie ein Freilichtmuseum. Es ist Teil des Museums „1915–1918“ im nahe gelegenen Kötschach-Mauthen, das den ersten österreichischen Museumspreis bekam.
Heute verteidigen Schafe die Stellungen. Sie blöken aus schattigen Schutzwällen und lassen ihre Munition in Form von kleinen braunen Kugeln ins Geröll plumpsen. Unten am Fuße des Kinigat klettern die Wanderer über dunkles, Millionen Jahre altes sogenanntes Urgestein. Auf manchen Felsbrocken kleben kakigrüne und hellbraune Moosflecken, die an das Muster einer Soldatenuniform erinnern. Irgendwo pfeifen Murmeltiere. Und am Himmel ziehen die Kolkraben harmonische Kreise.