Jahrelang ist es auf der Chemieplattform Carling unter den Augen der Behörden zu massiven Umweltverstößen gekommen. Nun wird deutlich: Nicht nur bei Carling, sondern auch anderswo in Lothringen wird der Erhalt der Arbeitsplätze oft als wichtiger angesehen als der Schutz der Umwelt.
Französische Umweltexperten loben die Fortschritte der Chemieplattform Carling beim Umweltschutz – sie mahnen aber zu weiteren Anstrengungen (FORUM berichtete). Fakt ist: Unter der Chemieplattform schwimmen nach Expertenschätzungen noch heute bis zu 100 Tonnen krebserregendes Benzol im Boden- und Grundwasser. Die Grenzwerte für diverse Schadstoffe etwa von Benzolverbindungen und Nickel werden sowohl direkt an der Plattform als auch in der von den Unternehmen belasteten, ins Saarland fließenden, Rossel weit überschritten.
„In Carling gibt es fast keinen CO²-Ausstoß mehr", unterstreicht dagegen Gaston Adier, Bürgermeister von Carling, gegenüber FORUM. Er habe Vertrauen in die regionale Umweltbehörde Dreal. Diese „Industrie-Polizei" kümmere sich um die Einhaltung der Umweltnormen. Im Übrigen wüssten die Deutschen „ganz genau, was wir machen", sagt Adier, der in seinem Haus regelmäßig die Plattformbegleitkommission (CSS) empfängt, an der auch Saarländer teilnehmen. Adier sagt: „Wir bedauern, dass es eine solche Einrichtung im Saarland bei Unternehmen wie Saarstahl nicht gibt." Anders als man denkt, seien die Deutschen nämlich „keine großen Umweltschützer".
„Die Menschen wollen Farben, Smartphones, aber keine Verschmutzung. Das passt nicht zusammen", findet Arnaud Ruschka, Vertreter der linken CGT-Gewerkschaft bei der Plattformbetreiber Arkema. „Wir sind beim Thema Umwelt zweigeteilt", erklärt er. Einerseits hingen die Mitarbeiter an der Industrie. In den vergangenen Jahren habe die Plattform schließlich zwei Drittel ihrer Angestellten verloren. „Anderseits ist uns natürlich auch die Umwelt sehr wichtig. Wir müssen beide Aspekte berücksichtigen."
Ruinen des Strukturwandels
Dabei ist Carling bei Weitem keine Ausnahme. 183 verseuchte Gelände verzeichnet die staatliche Umweltdatenbank BASOL alleine im ans Saarland angrenzenden Departement Moselle. So viele auf so engem Raum finden sich sonst nirgendwo in Frankreich. Gérard Landragin, Entsorgungs-Experte beim lothringischen Umweltdachverband Mirabel, schätzt, dass es alleine in Moselle mehr als ein Dutzend „tickende Zeitbomben" gibt. Damit meint er vor allem Insolvenzfälle, bei denen sich die Dekontaminierung über Jahre hinzieht. In solchen Fällen sehe der Gesetzgeber vor, dass aus dem verbleibenden Firmenvermögen zuerst die Gläubiger ausgezahlt werden müssten: „Ausgaben für den Umweltschutz kommen erst nach ausstehenden Gehältern, Sozialabgaben und Ausgaben für andere Schuldner." Dennoch habe es in den vergangenen Jahren Fortschritte gegeben. So müssten neue Unternehmen mittlerweile Geld für Räumungen zurückstellen. Aber selbst die Neuregelung sorge oft nicht dafür, dass wirklich ausreichende Summen für den Fall einer Firmenpleite zurückgehalten würden, sagt der Experte.
Wo einst Hochöfen brannten und Stahl kochte, wo einst Arbeiter Tag für Tag zu Tausenden in die Werke strömten, ist heute oft Stille eingekehrt. Saarlands französische Nachbarregion hat in den vergangenen Jahren einen tiefgreifenden Strukturwandel durchlebt. Der Rückgang der weitverbreiteten Schwerindustrie hat nicht nur die Arbeitslosigkeit auf zuletzt mehr als zehn Prozent anschwellen lassen, er hat auch in der Landschaft tiefgreifende Spuren hinterlassen.
Während Lothringens verlassene Halden mit ihren stillstehenden Riesenbaggern für jeden sofort sichtbar sind, bleibt ein Teil des industriellen Erbes auf den ersten Blick verborgen. Die Verschmutzung der Böden, des Grund- und Oberflächenwassers und der Luft auf und um Industriebrachen ist ein Thema, das lange Zeit, wenn überhaupt, nur am Rande in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Unstrittig ist, dass man in Lothringen in den vergangenen Jahren Umweltbelangen zunehmend Raum gibt. Unter dem 1998 gegründeten Verbund „Umweltnetzwerk Lothringischer Unternehmen" informieren neben staatlichen Stellen auch Kammern und Verbände immer offensiver über Umweltrisiken und ökologische Alternativen.
Aluminiumbelastetes Öl im Bach verklappt
Besonders bei Umweltproblemen im Zusammenhang mit der Schwerindustrie zeigten sich in der Vergangenheit sowohl Unternehmen als auch Behörden weitaus weniger transparent. „Mir scheint, es gibt hier eine eingeschworene Verbindung aus Unternehmern, lokalen Politikern und dem Staat", sagt Umwelt-Experte Landragin. So ist es auch nicht verwunderlich, dass man sich Informationen zu verwaisten Industriebrachen und anderen Umweltrisiken in Lothringen mühsam zusammensuchen muss.
Erst durch die FORUM-Recherchen kam heraus, dass vor allem auf dem ehemaligen Industriegelände der Firma Mim im grenznahen Merten jahrelang verbotenerweise tonnenweise hochgiftige Säuren und brennbare Pulver lagerten. Der Fall hatte im Jahr 2015 auf beiden Seiten der Grenze für Aufsehen gesorgt. Schließlich liegt das Grundstück an einem Bachlauf, der nur zwei Kilometer weiter im Saarland anlangt. Eine von dem seit 2013 geschlossenen Metallverarbeitungsbetrieb ausgehende Havarie hatte 2015 sogar die Feuerwehr aus Überherrn auf den Plan geworfen. Den französischen Umweltbehörden war die Firma, die zuletzt 34 Mitarbeiter beschäftigte, schon lange bekannt. Seit Anfang 2000 war der damalige Firmenchef, ein Unternehmer aus Saarlouis, neun Mal wegen Umweltvergehen von der Regionalregierung abgemahnt worden. Strafzahlungen oder gar Prozesse gegen ihn gab es aber keine. Nach kleinen Unterbrechungen konnte er den Betrieb stets wieder aufnehmen.
Nun sind neue Details zu diesem Fall aufgetaucht. Alles deutet darauf hin, dass über Jahre giftige Chemikalien aus dem 2013 in die Insolvenz gegangenen Metallverarbeitungsbetrieb über einen Bachlauf in Richtung Saarland geflossen sind. Jérémy Muller, Experte für Industriebrachen, hat für die zuständige französische Umweltbehörde Ademe die Dekontaminierung des Geländes auf Kosten des Steuerzahlers koordiniert. „Es handelt sich um einer unserer größten Einsätze der vergangenen Jahre", sagt er. Nicht weniger als 938 Tonnen Schadstoffe wurden demnach auf dem Gelände gefunden. Bei der mehrere Monate andauernden Aktion kam heraus: „Es gab dort Dinge, die vor den Kontrollbehörden verborgen wurden." Neben rund 200 versteckt gehaltenen riesigen Säcken mit schwermetallbelasteten Schlämmen entdeckten Mitarbeiter zudem ein geheimes Kanalrohr, das von dem Unternehmen direkt in den ins Saarland fließenden Bachlauf ragt. Laut FORUM exklusiv vorliegenden Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft schilderte ein ehemaliger Mitarbeiter die Funktion dieses Rohres wie folgt: „Das ging direkt vom Abschnitt der Metallisierung ab. (…) Das waren Abwässer, die überhaupt nicht neutralisiert waren." Außerdem sei aluminiumbelastetes Öl „ohne Behandlung in den Bachlauf" gekippt worden. Die Ermittlungen in dem Fall sind mittlerweile eingestellt worden, aus Mangel an Beweisen.
Seinerzeit zeigten sich die Behörden Journalisten gegenüber zugeknöpft. In einer nun aufgetauchten, vertraulichen Urfassung eines Protokolls der Sitzung des Mertener Gemeindesauschusses aus der Zeit ist zu lesen: „Der Unterpräfekt hat den Bürgermeister daran erinnert, wie wichtig es ist, nicht auf Fragen der Journalisten zu antworten, bis eine Lösung des Problems gefunden wurde." Auf Anfrage äußerten sich weder der Mertener Bürgermeister noch die regionale „Umwelt-Polizei" Dreal, noch die Unterpräfektur.
Ein weiteres krasses Beispiel ist der ebenfalls im Jahr 2015 von der Umweltbehörde Ademe behandelte Fall der Firma Pimest an der Grenze zu Luxemburg, der jahrelang unentdeckt geblieben sei. „Genau wie in Merten herrschte hier dringender Handlungsbedarf", erklärt der zuständige Bearbeiter Jérémy Muller. „Wir haben dort vier Meter hohe Giftmüll-Berge vorgefunden", berichtet der Experte. Anders als in Merten habe dieser Betrieb allerdings mitten in einer Wohnsiedlung gelegen. Rund 400 Tonnen Schadstoffe seien auf dem ungesicherten Gelände gefunden worden, darunter leicht entzündliche Abfälle, Gasflaschen und Treibstoffe. Mullers Fazit: „Das war ein richtiger Cocktail für eine Explosion." Anfang kommenden Jahres schicke die Ademe wieder einen Räumungstrupp aus. Auch auf dem Gelände des bereits 2014 in Insolvenz geratenen Metallverarbeitungsbetriebs Profilest in Ottange, ebenfalls an der Grenze zu Luxemburg und ebenfalls in einem Wohngebiet, lagern noch immer kaum gesichert tonnenweise Schadstoffe.
„Die Menschen hier schweigen meist"
Ein neuer Fall ist der von Journalisten der lothringischen Zeitung „Républicain Lorrain" im Sommer aufgedeckte Skandal um mutmaßliche Verklappungen von Säuren am Rande der Kleinstadt Hayange. Nach einer Anzeige durch den französischen Umweltdachverband France Nature Environnement ermittelt nun die Staatsanwaltschaft. Das Unternehmen Arcelor Mittal, einer der größten Arbeitgeber der Region, wird von einem Whistleblower beschuldigt, durch einen Dienstleister über Jahre tausende Tonnen Säuren illegal in einem Steinbruch entsorgt zu haben. Das Unternehmen bestreitet das. Éric Marochini ist beim örtlichen Bezirksamt für territoriale Entwicklung zuständig. Seine Behörde hat in dem Fall Anzeige gegen Unbekannt erstattet. FORUM sagt Marochini, der Fakt, dass überhaupt mal ein Unternehmen wegen Umweltvergehen angezeigt werde, habe in der Gegend Seltenheitswert: „Die wenigen verbliebenen Unternehmen werden geschützt. Die Menschen hier schweigen meist." Er ärgere sich nun, dass er „nicht richtig informiert" werde, was in dem Fall weiter passiere. Seit Monaten warteten er und seine Kollegen vergeblich auf die Messergebnisse durch die Behörden.
„Es ist nicht zu akzeptieren, dass Umweltprobleme hierzulande noch immer am grünen Tisch diskutiert werden", ärgert sich der ehemalige Umweltingenieur Landragin. Transparenz sei das Mindeste, was man den Bürgern umliegender Gemeinden schuldig sei. Das sei bei Weitem keine freiwillige Aufgabe, sondern vielmehr Gesetz, sagt der Experte. Schließlich verpflichte die Aarhus-Konvention Behörden, Bürger über Umweltbelange zu informieren. Landragin steht mit diesem Appell nicht alleine da. Seit Jahren schon fordern vor allem im Saarland Bürgerinitiativen und Umweltverbände, rechtzeitig und umfassend über Umweltprobleme in Lothringen aufgeklärt zu werden.