André Lange war der erfolgreichste Pilot der Bobgeschichte – jetzt trainiert er die Rennrodler von Olympia-Gastgeber Südkorea. Seine Erwartungen sind bescheiden, die seiner Arbeitgeber nicht.
Während seiner höchst erfolgreichen Bob-Karriere wurde André Lange überall nur „Bärchen" genannt. Die knuffigen Pausbacken hat der viermalige Olympiasieger noch immer im Gesicht, und seit dem Karriereende 2010 ist nochmal das ein oder andere Kilo an Gewicht dazugekommen. Lange ist eben ein Genussmensch – und deshalb hat er vorgesorgt, bevor er sein Abenteuer in Südkorea startete.
„Ich war clever genug", sagt Lange gegenüber FORUM, „und habe das ein oder andere Paket aus Deutschland mitgenommen." Was da drin ist? „Natürlich was Deftiges!" Mit Glasnudeln, Seetang oder Teigtaschen kann der Thüringer nur wenig anfangen. Das Essen war aber nicht das Einzige, was der 44-Jährige umstellen musste, als er am 1. Oktober seinen Posten als Bahntrainer für das südkoreanische Rodelteam antrat. Lange hat seitdem mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen, die ihn auch zum Weltcup-Start am 18. November in Innsbruck begleiten.
Eine davon ist die übertrieben hohe Erwartungshaltung in seiner neuen Wahlheimat, wo im Februar die Olympischen Winterspiele stattfinden. Südkorea wolle auch im Rodeln „viele Medaillen haben", berichtet Lange. „Das ist in einer Kernsportart wie Rodeln, das von klein auf betrieben werden muss, um erfolgreich zu sein, vielleicht ein bisschen schwierig."
Man merkt Lange förmlich an, dass er sich nur mit viel Mühe weitere Kritik an seinem Arbeitgeber verkneifen kann. Wie groß der Druck auf ihn und das ganze koreanische Rodelteam ist, zeigt auch folgende Geschichte: Die vor einem Jahr eingebürgerte Altenbergerin Aileen Frisch heißt in Südkorea „Lim Il Wi", was übersetzt „Gewinnt den ersten Platz" bedeutet. „Das sagt schon ziemlich viel über ihre Erwartungen aus", sagt die frühere Junioren-Weltmeisterin, „auch wenn ich da etwas skeptisch bin."
Frisch, 25 Jahre alt und früher als Aktive des Bob- und Schlittenverbandes für Deutschland (BSD) beständig unter den Top Ten platziert, ist die einzige realistische Chance des Olympia-Gastgebers auf vordere Ränge. Der beste männliche Rodler aus Südkorea, Kang Doung Kyu, belegte in der vergangenen Weltcupsaison in der Gesamtwertung den 46 (!) Platz. Etwas besser sieht es bei den Doppelsitzern Park Jinyong/Cho Jung Myung aus, „die können einen einstelligen Platz erreichen, wenn sie sauber durchkommen", sagt Lange. Um das Duo anzusprechen, benutzen er und Cheftrainer Steffen Sator deutsche Namen. „Wir nennen sie Franz und Lothar", verrät Lange, und er erklärt: „Die Jungs akzeptieren das. Für uns ist es so einfacher, weil das mit den koreanischen Namen nicht ganz so einfach ist."
„Das Projekt ist auf eine Saison begrenzt"
Und auch mit der Mentalität hat Lange zu kämpfen. Die sei „schon sehr speziell", meint der Oberhofer. Er, der über Jahrzehnte im deutschen Sport tätig war, tut sich schwer mit der asiatischen Form der Organisation. „Manchmal stellt sich bei den Zuständigkeiten und Umsetzungen der Arbeiten die eine oder andere Frage."
Auch hätten die Koreaner eine andere Auffassung von der Bearbeitung der neuen Bahn im Alpensia Sliding Center von Pyeongchang, wo in drei Monaten olympische Medaillen vergeben werden. „Fachleute in Deutschland und woanders in der Welt würden ein paar Dinge sicher anders machen", sagt Lange. Seiner Meinung nach beraubt sich der Olympia-Gastgeber einer großen Chance. Denn der Vorteil, auf der heimischen Bahn deutlich mehr Trainingsläufe absolvieren zu können als die internationale Konkurrenz, hat sich in der jüngeren Vergangenheit immer für das Austragungsland ausgezahlt.
Doch das wird für Südkorea nicht reichen, denn der Rückstand auf die internationale Konkurrenz ist zu groß. „Das Programm hätte viele Jahre vorher anlaufen müssen", sagt Lange. In Deutschland fangen Kinder im Alter von etwa sieben Jahren mit dem Sport an, in Südkorea arbeitet Lange mit Athleten, die teilweise erst mit 17 oder 18 Jahren das erste Mal auf dem Schlitten saßen. „Da fehlen fast zehn Jahre, in denen die Sportler auch am meisten lernen", sagt er.
Die Schwierigkeit seiner Mission hört man bei Lange in fast jedem Satz heraus. Dennoch hat er sein Engagement bis heute nicht bereut. „Reizvoll ist die Aufgabe schon, einmal im Ausland zu arbeiten", sagt er. „Wer will das nicht? Und bei mir kamen noch andere Dinge dazu." Im Mai hörte der Lokalheld als Sportlicher Leiter des Zweckverbandes Thüringer Wintersportzentrum in Oberhof auf. Und beim deutschen Bobverband war keine passende Stelle frei.
Das wird sich nach Olympia ändern. Dann wird die große deutsche Bob-Ikone sehr wahrscheinlich endlich als Trainer im BSD arbeiten. „Wir werden versuchen, unser langjähriges Aushängeschild André Lange wieder in unsere Bobmannschaft zu integrieren", sagt BSD-Sportdirektor Thomas Schwab.
Welche Funktion genau der achtmalige Weltmeister übernehmen wird, ist noch ungewiss. Jetzt sind andere Sachen wichtiger: Rodeln, Südkorea, Olympia. Danach ist sein Wechsel ins „fremde" Metier definitiv beendet, betont Lange: „Das Projekt ist auf eine Saison begrenzt, auch deshalb hatte ich etwas überlegt, als ich gefragt wurde."
Nach Südkorea gelockt hat ihn Cheftrainer Steffen Sator, der dort schon seit vier Jahren Aufbauhilfe betreibt. Der Thüringer, der davor die Schweizer Rodler betreut hatte, musste nicht lange überlegen. Verbandspräsident Chang, der Inhaber von Duty-Free-Shops auf sämtlichen koreanischen Flughäfen, habe ihn bei der ersten Verhandlung gefragt: „Was willst du? Was brauchst du?"
Die Gehälter sind gut, die Bedingungen auch – nur die Athleten hinken den Ansprüchen noch hinterher. „Normalerweise benötigt ein Athlet von den Anfängen bis in die Spitze zwölf Jahre", sagt Sator. „Wir haben gerade einmal vier."
„Die Kufen sind eine Wissenschaft für sich"
Auch deshalb kommt viel auf Aileen Frisch an. Die Altenbergerin nahm die koreanische Staatsbürgerschaft an, gab ihren deutschen Pass ab – nur, um sich den Traum von Olympia zu erfüllen. Denn im deutschen Team war die Übermacht mit Olympiasiegerin Natalie Geisenberger und Co. zu groß. Die erste Anfrage aus Südkorea empfand sie zwar als „komisch und seltsam", doch in den Gesprächen danach wurde sie überzeugt.
Genau wie Lange. Er musste sich aber gedanklich erst vom Bob auf den Rennrodelschlitten umstellen. Der erfolgreichste Pilot der Bob-Geschichte war in jungen Jahren selbst als aktiver Rennrodler unterwegs, doch auf einem Schlitten saß er zuletzt vor 24 Jahren. „Die ersten zwei, drei Tage habe ich sehr genau hinschauen und viele Fragen stellen müssen", verrät Lange. Aber mittlerweile fühle es sich so an, „als würde ich es viele Jahre machen". Es sei „erstaunlich, woran sich der Körper alles erinnert, wenn man neben einer Bahn steht und sich in die Athleten hineinversetzen muss".
Lange kann sich immer mehr daran erinnern, wie es sich anfühlt, mit Geschwindigkeiten von bis zu 150 Stundenkilometern den Eiskanal hinunterzurauschen – und was für Fehlerquellen in den Kurven oder den Geraden lauern. „Man kann Parallelen zwischen Bob und Rodeln finden", sagt er, „die Physik zum Beispiel ist die gleiche." Auch in der Trainingsmethodik fällt Lange nach seinem Studium „Sport und Management" an der Fachhochschule Potsdam die Umstellung leicht. Aber hinter das Geheimnis der Kufen, die im Rodelsport eine große Rolle spielen, ist Lange noch nicht gestiegen. „Die sind eine Wissenschaft für sich, da sind die anderen Kollegen im Team gefragt", sagt er.
Lange selbst bringt seine fahrerische Erfahrung mit ein. „Das Know-how, das meine Kollegen und ich aus Deutschland mitbringen, ist nicht zu unterschätzen", sagt er. Doch ganz vorne werden wohl wieder seine Landsleute landen. Bei der internationalen Trainingswoche auf der Olympiabahn sei das deutsche Team um Geisenberger und Felix Loch „wieder sehr stark" unterwegs gewesen, berichtet Lange. „Die muss erst mal jemand schlagen."
Die Koreaner werden es nicht können, trotzdem wird Lange am Ende wohl ein positives Fazit seines Asien-Abenteuers ziehen. Lange hätte es den Heimatmenschen ohnehin nicht in der Ferne gehalten, zumal Ehefrau Ariane Friedrich, die frühere Weltklasse-Hochspringerin, und die gemeinsame Tochter ihr „Bärchen" sehnlichst zurückerwarten.