Karies-Gefahr: Bei jedem Kuss wechseln Millionen Bakterien den Besitzer.
Im die massiven Fluchtgedanken irgendwie aus unserem Kopf zu verdrängen, greifen wir im Wartezimmer unseres Lieblingszahnarztes gern zu einschlägigen Fachzeitschriften. Von der Lektüre sind wir dann derart hingerissen, dass wir um uns herum kaum mehr anderes wahrnehmen und dann oft erst beim zweiten, dritten Aufruf in Richtung Behandlungszimmer streben.
Bei unserem jüngsten Dentistenbesuch lasen wir kürzlich im „Wartezimmer“ genannten Vorhof zur Hölle echt Dramatisches: Karies ist ansteckend! Deshalb sollten etwa Eltern bei ihren Kleinkindern weder einen heruntergefallenen Schnuller vor der Rückgabe ablutschen noch am Breilöffel der Kids die Genießbarkeit der vorbereiteten Mahlzeit überprüfen. Nach kurzer Überprüfung unseres Langzeitgedächtnisses konnten wir in dieser Hinsicht in eigener Sache Entwarnung geben: Weder der Gummigeschmack eines Schnullers noch die pampige Konsistenz eines Babybreis hat uns kulinarisch angetörnt, sodass wir Kindern und Enkeln ihr Geschmackserlebnis ungeteilt überließen und unsere Kariesbakterien für uns selbst behielten.
Viel schlimmer traf uns ein weiterer Befund von Hygiene-Experten: Bei einer „Knutsch-Studie“ mit 21 Paaren ermittelten die Wissenschaftler, dass bei jedem mindestens zehn Sekunden dauernden Kuss 80 Millionen Bakterien ausgetauscht werden. Da läuft einem nicht gerade das Wasser im Munde zusammen, sondern eher das kalte Grausen den am Kussvorgang meist unbeteiligten Rücken hinunter. Nach einem intensiven Kuss fanden die „Mund-Höhlenforscher“ im Speichel jedes Knutschers ein Drittel mehr Bakterien als vorher. Und viele dieser Bakterien sind leider im Stande, Karies hervorzurufen. Also selbst bei einer meist so gut gemeinten Berührung wie einem Kuss kann Karies übertragen werden und schlimmstenfalls zu dentalem Totalverlust führen.
Nicht nur, dass wir jetzt unseren schon früh Gebiss tragenden Großvater mit ganz anderen Augen sehen müssen – schließlich hatte unsere Oma zeitlebens nie Kariesprobleme. Nein, wir sehen uns nun gezwungen, dem weiblichen Geschlecht – zumindest in oberen Regionen – noch reservierter gegenüberzutreten als wir dies mit Rücksicht auf uns nahestehende Familienmitglieder ohnehin schon tun.
Die Vorstellung, beim Küssen Millionen von karieserregenden Bakterien auszutauschen und später mal bei jedem Biss ins milchgetunkte Schlabber-Brötchen an all unsere früheren Eroberungen erinnert zu werden, vertreibt den letzten Rest an Erotik aus unseren ohnehin risikobelasteten Zweierbeziehungen.
Zuerst hat es uns dann etwas beruhigt, dass die Zahnmediziner darauf hinwiesen, dass eine „möglichst vielfältige Bakteriengemeinschaft im Mund“ durchaus auch Vorteile haben kann. Daher könne es sogar sinnvoll sein, viel zu küssen. Allerdings machen sie die ernüchternde Einschränkung, dass man sich nur Partner mit gesunder Mundflora suchen sollte. Woher die aber nehmen, wenn die Auswahl altersbedingt ohnehin immer geringer wird?
Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es: Dentisten bieten einen Kariesbakterien-Test an. Vielleicht können Liebespaare ja dann nach gegenseitiger Einsichtnahme in die ausgestellten Unbedenklichkeitsbescheinigungen auch künftig noch im Kuss dahinschmelzen, ohne dass ihr Zahnschmelz ihnen gleich nacheifert. Einen Haken hat die Kuss-Prophylaxe allerdings: Die Mundanalyse kostet 60 bis 70 Euro und wird nur bei Privatversicherten von der Kasse übernommen. Ansonsten muss man nicht nur den Mund, sondern auch den eigenen Geldbeutel aufmachen.
Droht uns also jetzt auch noch beim Küssen eine Zweiklassengesellschaft? Können fortan nur noch die Besserversicherten oder Gutbetuchten auf umständliche „Safer Kiss“-Praktiken verzichten? Wir befürchten jedenfalls Schlimmeres und schlichen doppelt ängstlich ins Behandlungszimmer. Als der Arzt dort seine motorisierten Quälgeister surren ließ, stand für uns jedenfalls eins fest: Vorsichtshalber werden wir keine Kassenpatientinnen mehr küssen.