Ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung ist introvertiert. Schule und Arbeitswelt aber sind auf Extrovertierte ausgerichtet. Die US-Autorin Susan Cain will Kinder und Jugendliche ermutigen, ihrer Natur treu zu bleiben und spezifische Stärken zu entfalten.
arum bist du immer so still?" ist eine Frage, die Susan Cain ihr ganzes Leben lang begleitet. Freunde, Lehrer, Bekannte – alle haben sie ihr gestellt. Schien doch schon früh das größte Kompliment zu sein, dass man aus sich herausgehen könne. Cain sagt, sie wisse es selbst nicht immer. Manchmal sei sie mitten in einem Gedanken oder einer Beobachtung, manchmal höre sie zu und manchmal, sei sie einfach still, weil sie so sei: still.
Ständiges Fingerschnipsen im Unterricht, laute Partys, vor großen Gruppen auftreten – das war nie ihre Welt. Ruhig sei sie, bedacht. Sie graduierte an der Princeton University, gefolgt von einem Jura-Abschluss an der Harvard Law School. Während ihres Weges, so sagt sie, habe man ihr immer signalisiert: So ruhig wie du bist, bist du nicht richtig, versuch extrovertierter zu werden. Und obwohl sie das tief im Inneren immer als falsch empfand, leugnete sie ihre Intuition und wurde Anwältin an der Wall Street statt Schriftstellerin, so wie sie es sich immer gewünscht hatte. Sie ging mit Freunden in überfüllte Bars, obwohl sie lieber ein Buch gelesen hätte. Jede Menge solcher selbstverneinenden Entscheidungen hätte sie getroffen, ohne dass es ihr überhaupt bewusst gewesen wäre. Ein Schicksal, das viele Introvertierte teilen. Einen Verlust für die Menschen selbst, ihre Kollegen, die Gemeinschaft, kurz einen Verlust für die Welt, nennt sie es heute selbst. Denn Introvertierte hätten Fähigkeiten und Talente, die in einer Gesellschaft, die vor allem gesellige Laute honoriert, nicht zum Tragen kämen.
Cain gründete die „Quiet Revolution"
Es war ihr erstes Buch, das letztlich zu einem persönlichen Befreiungsschlag verhalf: „Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt." Jahrelang war es auf der „New York Times"-Bestsellerliste, wurde in über 40 Sprachen übersetzt. Der Entstehungsprozess – sieben Jahre lang recherchieren, nachdenken, schreiben – sei für sie die pure Glückseligkeit gewesen. Ihr TED (Techonology, Entertainment and Design)-Talk dazu zählt mit vielen Millionen Aufrufen zu den meist gesehenen in der Welt. Anschließend gründete sie „Quiet Revolution", ein Unternehmen mit der Mission, Introvertierte aller Altersklassen zu stärken.
Ganz speziell hat sie sich nun auf Kinder und Jugendliche konzentriert und mit „Still und stark. Die Kraft introvertierter Kinder und Jugendlicher" ein Nachfolgebuch veröffentlicht. Darin enthalten sind Tipps für Schule, Hobbys, zu Hause und das Unter-Leute-Gehen. Aber auch ein Nachwort für Lehrer und ein Leitfaden für Eltern. Denn Cain macht klar, der Umgang mit introvertierten Kindern und Jugendlichen ist eine gesamtgesellschaftliche Frage. Introvertiertheit sei keine Schande, sondern eine starke Kraft, wenn man sie zu nutzen wisse.
Introvertiertheit sei keine Schüchternheit. Vielmehr lasse sie sich über das Maß an Stimulation definieren, das ein Mensch benötigt. Während Extrovertierte im Umgang mit einer Gruppe aufblühen und Energie aus dem Umgang mit anderen ziehen, genießen Introvertierte es auch, Zeit für sich zu haben. Sie sind gute Beobachter und Zuhörer und haben ein Innenleben mit Tiefgang. Es gebe nicht den Extrovertierten oder den Introvertierten schlechthin, erklärt Cain. Aber jeder Mensch befinde sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Manche sind genau in der Mitte, können also zwischen Introversion und Extraversion wechseln. Sie nennt man ambivertiert. Wo man sich selbst verorten kann, können Interessierte mithilfe eines Tests herausfinden.
Besonders wichtig ist das Zuhause
Um unsere Talente auf ein Höchstmaß zu bringen, müssten wir eine Form der Stimulation finden, die für uns passend ist. Schulen und Arbeitsplätze aber sind für Extrovertierte entworfen – und sie benötigen jede Menge Stimulation.
Daher gibt Cain in ihrem Buch Tipps, wie introvertierte Kinder und Jugendliche diese Situationen meistern können. Sich etwa einen kleinen Kreis von Altersgenossen zu suchen, in dem man sich wohlfühlt und dort seine Introvertiertheit erklären. Sich im Unterricht früh zu melden und Notizen zum Wortbeitrag vorzubereiten. Lehrer regt Cain dazu an, die Formen der Unterrichtsbeteiligung zu überdenken. Nicht nur mündliche Beiträge seien eine Form der Leistung. Sie schlägt vor, öfter in kleinen Gruppen zu arbeiten, den Schülern vor Diskussionen Nachdenkzeit einzuräumen, Methoden wie „Brainwriting" auszuprobieren oder neue technische Hilfsmittel zu nutzen. Sie berichtet von einer Englischlehrerin aus New Jersey, die ihre introvertierten Schüler durch Twitter und Live-Chats dazu gebracht habe, ihre Meinung kundzutun.
Auch in Bezug auf soziale Kontakte weiß Susan Cain Hilfreiches zu vermitteln. So empfiehlt sie beispielsweise bei einer Party einen Begleiter mitzunehmen und vorab zu organisieren, wie lange man in der Menschenmenge bleiben und wann man sich wieder zurückziehen wolle. Außerdem sollten sich Introvertierte immer wieder kleine Pausen, etwa auf der Toilette, gönnen.
Über Hobbys ließen sich gut Kontakte knüpfen. Hierbei sei es wichtig, das jeweils richtige Medium zu finden. Ob Sportverein, Zeichenkurs oder Schulband – die Aktivität muss zum Kind passen. Bei öffentlichen Auftritten wie Musikfestivals oder Spielen der Sportmannschaft empfiehlt sie, sich auf sich selbst zu fokussieren und die Menge schrumpfen zu lassen. Bevor sich Introvertierte unter die Augen großer Gruppen begeben, sollten sie lernen, den Druck langsam aufzubauen und schrittweise ihrem Ziel entgegenzugehen.
Besonders wichtig für introvertierte Kinder und Jugendliche sei das Zuhause. Hier müssen sie einen Ort der Ruhe und Erholung finden und sich von der lauten Außenwelt abschotten können. Sie ermuntert die jungen Menschen, ganz gezielt nach Rückzugsorten zu suchen – egal ob in der Natur, der Bücherei oder dem eigenen Zimmer. In der Familie sollten die Naturelle der jeweiligen Mitglieder und die damit verbundenen Präferenzen akzeptiert werden. Gleichzeitig sei die Suche nach Kompromissen für alle Beteiligten unabdingbar.
Introvertierte sind oft besonders kreativ
Cains Buch ist einerseits eine Ermutigung für Introvertierte, sich selbst treu zu bleiben und auf seine ganz eigenen Stärken zu setzen. Andererseits fordert sie die Kinder und Jugendlichen immer wieder heraus, ihre eigene Komfortzone zu verlassen. Dazu zitiert sie eine berühmte Introvertierte, Eleanor Roosevelt: „Mache jeden Tag etwas, wovor du Angst hast" und erläutert die Gummibandtheorie der Persönlichkeit. Nach einem der führenden Psychologen der Persönlichkeitsforschung, Dr. Carl Schwartz, sind unsere Persönlichkeiten von Geburt an bis zu einem gewissen Grad in Gehirn und Nervensystem verankert. Der Mensch aber kann sich dehnen und seine Grenzen nach außen verlagern. Sensible und vorsichtige Kinder können beispielsweise lernen, mutiger zu handeln und impulsive und forsche Kinder, diplomatischer zu sein. Auf diese Weise lässt sich die eigene Persönlichkeit wie ein Gummiband dehnen. Wichtig hierbei: Man muss die eigenen Grenzen gut kennen, damit es nicht reißt.
Für eine Gesellschaft, so Cain, sei es wichtig, dass es eine Ausgewogenheit, ein Yin und Yang, zwischen Introvertierten und Extrovertierten gäbe. Auch im Hinblick auf Kreativität und Produktivität sei das von besonderer Bedeutung. Introvertierte Persönlichkeitszüge seien, das haben Psychologen untersucht, oft eine ganz entscheidende Zutat für Kreativität. Die Probleme, denen wir heute gegenüberstünden, so sagt sie, seien so gewaltig und komplex, dass wir Scharen von Menschen bräuchten, die zusammenarbeiteten, um sie zu lösen. Je mehr Freiheiten die Introvertierten hätten, sie selbst zu sein, desto wahrscheinlicher sei es, dass sie einzigartige Lösungen präsentierten. Austausch sei wichtig, aber es bräuchte mehr Privatsphäre, Freiheit und Eigenständigkeit in Arbeit und Schule. Die Talente, die Introvertierte in sich tragen, seien eine unterschätze und oft ungenutzte Kraft. Oder mit anderen Worten: eine Verschwendung von Potenzial und Glück, die Individuum und Gesellschaft schaden und die die Welt sich nicht mehr leisten kann.