In der Debatte um Stickoxide und Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in kommunalen Ballungsräumen wird selten der Frage nachgegangen, wie gesundheitsschädlich die Substanzen wirklich sind. Das verwandte Gefahrenpotenzial Feinstaub wird fast ganz ausgeklammert.
Es gibt sie noch, die Inseln der Seligen in der Bundesrepublik. Sprich die drei Länder, in denen 2016 kein einziges Mal die EU-Grenzwerte für Stickstoffdioxid-Belastungen an verkehrsmäßig besonders exponierten Messstellen des Umweltbundesamtes überschritten wurde. Das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen konnten gewissermaßen eine fast schadstoffreine weiße Weste behalten. Das war in vielen anderen deutschen Städten oder Regionen völlig anders, denn bei rund 57 Prozent der Messstationen wurde der Grenzwert teils deutlich überschritten. Mit dem Neckartor in Stuttgart als einsame Schadstoffspitze.
Zum Schutz der menschlichen Gesundheit wurden europaweit ein Jahresgrenzwert von durchschnittlich 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid (NO₂) pro Kubikmeter Luft und zusätzlich noch ein Ein-Stunden-Grenzwert von 200 Mikrogramm NO₂ pro Kubikmeter festgelegt, wobei letzterer nicht öfter als 18 Mal im jeweiligen Kalenderjahr überschritten werden darf. Am Stuttgarter Neckartor lag die Jahresbelastung bei 82 Mikrogramm, der Stundengrenzwert wurde 35 Mal nicht eingehalten. Im Vergleich dazu ist beispielsweise die berühmte Berliner Luft ziemlich sauber. Die schlechtesten Jahreswerte wurden mit 52 und 51 Mikrogramm an zwei Stationen in Neukölln gemessen, die Stundengrenzwerte wurden an beiden Stellen sogar nur ein einziges Mal gerissen. Die Größe einer Stadt ist übrigens keineswegs immer ein Indikator für die Güte ihrer Luft, im Vergleich können kleinere Städte mit erschreckend hohen Werten aufwarten. In Kiel wurden 2016 mit die höchsten Jahreswerte der Republik gemessen, während Bremen nur ganz knapp über der Schwelle lag.
Größe der Stadt ist irrelevant
Stickoxide, gasförmige Verbindungen aus Stickstoff (N) und Sauerstoff (O) kommen in der Natur kaum vor. Sie entstehen bei Verbrennungsprozessen, vor allem in Motoren, aber auch in Feuerungsanlagen für Kohle, Öl, Gas, Holz und Abfälle. Wobei Stickstoffoxide meist nur als Stickstoffmonoxid (NO) emittiert werden, aber sogleich atmosphärisch zu Stickstoffdioxid (NO₂) oxidieren. Obwohl laut Angaben des Bundesumweltamtes die Stickstoff-Emission in Deutschland zwischen 1990 und 2015 stark um 59 Prozent reduziert werden konnte, ist der Straßenverkehr noch immer mit einem Emissionsanteil von 38 Prozent die wesentliche NO₂-Quelle. Wobei Dieselmotoren, bei denen der Kraftstoff bei höheren Temperaturen verbrennt als bei Benzinern, den Löwenanteil beitragen.
Und speziell die mit Oxidationskatalysatoren ausgestatteten Dieselfahrzeuge sorgen dafür, dass der Anteil des giftigen Stickstoffdioxids sogar zunimmt. Nur durch eine aufwändige Nachbehandlung mit Harnstoff könnten die Stickoxide chemisch aus dem Diesel-Abgas gelöst werden, doch bislang verfügen nur wenige Dieselmotoren über diese Technologie. Auch wenn die einzelnen Autos in den vergangenen Jahren immer sauberer geworden sind, so hat die Zahl der Kraftfahrzeuge ständig zugenommen, der Verkehr in Ballungsräumen ist immer dichter geworden mit endlosen Staus und Luftverschmutzungen jenseits der Grenzwerte. Kein Wunder, dass besonders stark betroffene Städte und Kommunen wegen befürchteter Gesundheitsschäden für ihre Bevölkerung Alarm geschlagen haben und mit Fahrverboten für Diesel-Dreckschleudern drohen.
Denn dass die Stickstoffdioxide aus Dieselmotoren gesundheitlich unbedenklich sind, wird von niemandem mehr behauptet. Dafür gibt es inzwischen auch zu viel Belastungsmaterial. So hatte beispielsweise die amerikanische Umweltbehörde EPA 2016 ein Update ihrer „Integrated Science Assessment" genannten Belege-Sammlung über Gesundheitsgefahren durch Stickoxide aus dem Jahr 2008 vorgelegt. 1.500 Fachartikel wurden darin aufgeführt. Mit einem, laut der Leiterin der Umweltepidemiologie am Uniklinikum Düsseldorf Barbara Hoffmann, nahezu einheitlichem Tenor: „Stickstoffdioxid ist schädlich und schadet der Gesundheit auf zahlreichen Wegen."
Kein Wunder, handelt es sich bei Stickstoffdioxid doch um ein Reizgas, das die menschlichen Schleimhäute und Atemwege angreift und auch die Augen in Mitleidenschaft ziehen kann. Probleme macht Stickstoffdioxid vor allem Menschen, die schon vorgeschädigte Atemwege haben. Bei Asthmatikern oder Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, bei der das Organ schon angegriffen und die Bronchien verengt sind, können schon NO₂-Konzentrationen im Bereich der offiziellen Grenzwerte Asthma- oder Hustenattacken auslösen oder die Atemnot verstärken. Weil schon geringere Mengen an NO₂ die Bronchien und Blutgefäße verengen können, ein Effekt, der auch das Leiden von Allergikern erheblich verschlimmern kann. Für Kleinkinder ist eine Belastung der Atemluft grundsätzlich bedenklicher als für Erwachsene, da der Atemluftaustausch im Verhältnis zur Körpermasse viel größer ist als bei den Älteren.
Bei gesunden Erwachsenen kann NO₂ womöglich Kopfschmerzen, Schwindel und Husten auslösen sowie wegen der Bildung von Säure und freien Radikalen die Wände in den feinen Ästen der Atemwege und der Lungenbläschen angreifen, wovon der Betroffene jedoch in der Regel dank eines Lungen-Schutzfilms zunächst nichts merken wird. Bei sehr hohen NO₂-Konzentrationen ist dieser Schutzfilm allerdings nicht mehr ausreichend. Wenn man reines Stickstoffdioxid einatmen würde, würde die Lunge zerstört und der Tod durch Wassereintritt unweigerlich in Windeseile eintreten. Steigende Stickstoffdioxidwerte haben zudem oftmals steigende Patientenzahlen in Arztpraxen wegen Atemweginfekten oder Lungenentzündungen zur Folge.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnt schon seit geraumer Zeit davor, dass in NO₂-belasteten Gebieten die Sterblichkeitsrate ansteigt. Die italienische Epidemiologin Annunziata Faustini hatte in einer vor drei Jahren veröffentlichten Untersuchung nachgewiesen, dass die Zahl der jährlichen Todesfälle um vier Prozent ansteigt, wenn sich die jährliche NO₂-Belastung um weitere zehn Mikrogramm pro Kubikmeter Luft erhöht. Laut Faustini hatte diese Erhöhung auch einen Anstieg der Zahl der tödlichen Herzattacken um 13 Prozent zur Folge. „Wir gehen davon aus, dass Entzündungsbotenstoffe aus der angegriffenen Lunge für diese Wirkungen verantwortlich sind", so Barbara Hoffmann. Diese Entzündungsbotenstoffe könnten auch Arterienverkalkungen fördern, womöglich Diabetes auslösen und das Geburtsgewicht von Kindern beeinflussen.
Angriff auf Atemwege
Allerdings hat die Umweltmedizin das grundsätzliche Problem, einen einzelnen Luftschadstoff als Gesundheitsrisiko zu überführen. Schwierig sind die Aussagen auch deshalb, weil die Substanzen teilweise Ähnliches bewirken, sich womöglich gegenseitig sogar verstärken oder sich miteinander verbinden. Epidemiologen können daher aus den Zahlen von vielen Millionen Menschen nur ausrechnen, ob komplizierte Lungenerkrankungen und Todesfälle in Regionen mit hoher Stickstoffdioxid-Belastung häufiger vorkommen als anderswo.
Wie hoch die Zahl dieser zusätzlichen Todesfälle ist, ist unter den Wissenschaftlern allerdings umstritten. Laut der Europäischen Umweltagentur sterben in Deutschland jährlich 10.400 Menschen durch Stickoxide. Auch höhere Zahlen von bis zu 14.000 Opfern werden schon mal genannt.
Dass Stickoxide, aus denen im Sommer Ozon entstehen kann, auch als Umweltgift wirken können, dass Stickstoffdioxid beispielsweise Pflanzen schädigen kann und zur Überdüngung und Versauerung von Böden beiträgt, ist unter Experten längst bekannt. Einen einzigen Trost gibt es immerhin: Die stinkenden Auspuffgase konzentrieren sich meist nur auf ganz bestimmte Orte. „Abseits der großen Verkehrsadern sinken die Stickstoffdioxid-Konzentrationen sehr schnell", erklärt Wolfgang Straff vom Umweltbundesamt. Allerdings setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass es eigentlich keinen sinnvollen Grenzwert gibt, unterhalb dessen NO₂ wirklich unbedenklich ist.
Benzinmotoren stoßen übrigens auch Stickoxide aus. Aber wegen des ausgestoßenen Kohlendioxids sind sie vor allem an der Klimaerwärmung beteiligt. Und sie sind gesundheitlich womöglich auch noch weitaus bedenklicher als die Stickoxide wegen des schädlichen Feinstaubs, dessen winzige, unsichtbare, weniger als zehn Mikrometer große Partikelchen in die tiefsten Verästelungen der menschlichen Lunge eindringen und dadurch die Bildung von Lungenkrebs befördern können. „Ich glaube, dass Feinstaub eine wesentlich größere Bedeutung hat als Stickoxid. Deshalb wäre es wichtig, sich darauf zu konzentrieren", sagt Professor Tobias Welte, der Direktor des Deutschen Zentrums für Lungenforschung in Hannover. Aber mit Feinstäuben wird bislang in Europa wesentlich großzügiger umgegangen als mit Stickoxiden. Die maximal erlaubte Jahresbelastung liegt hier mehr als doppelt so hoch wie jene Grenzwerte, welche die Weltgesundheitsorganisation gerade noch als verträglich einstuft. Erfreulich immerhin, dass 2016 in Deutschland das Jahr mit der geringsten Feinstaubbelastung seit der Jahrtausendwende war.