Als Werner von Siemens vor 125 Jahren starb, hatte er dank lukrativer Geschäfte im Telegraphenwesen und der Erfindung leistungsfähiger Generatoren zum Antrieb von Elektromotoren ein erfolgreiches Familienunternehmen aufgebaut. Sein Lebenstraum war ein „Weltgeschäft à la Fugger" oder eine „Weltfirma à la Rothschild".
Einige Zeilen aus einem Brief von Werner Siemens an seinen jüngeren Bruder Carl vom 25. Dezember 1887 erlauben tiefe Einblicke in die Prinzipien des Unternehmenspatriarchen, der ein halbes Jahr später in den erblichen Adelsstand erhoben werden und sich fortan Werner von Siemens nennen sollte. „Ich sehe im Geschäft erst in zweiter Linie ein Geldeswert-Objekt, es ist für mich mehr ein Reich, welches ich gegründet habe und welches ich meinen Nachkommen ungeschmälert überlassen möchte, um in ihm weiter zu schaffen." Er hegte zeitlebens tiefe Aversionen gegen Aktiengesellschaften oder den Kapitalmarkt, auf sein Familienunternehmen sollten keine Banken Einfluss nehmen können.
Seinem Verständnis nach war ein Industrieller in erster Linie ein Fabrikant. In seinen Ende 1892 – wenige Tage vor seinem Tod – erschienenen „Lebenserinnerungen" charakterisierte er sich selbst „mehr als Gelehrten und Techniker denn als Kaufmann". Für ihn war die eigene Familie mit das Wichtigste. Nach dem frühen Tod der Eltern 1839 beziehungsweise 1840 hatte er – obwohl selbst noch minderjährig – die Verantwortung für seine zahlreichen Geschwister übernommen und später seine Brüder mit leitenden Positionen im Unternehmen betraut. Selbst beim Heiraten bewegte sich Siemens innerhalb des Familienstammbaums. Seine 1852 geehelichte erste Gemahlin Mathilde war eine entfernte Nichte aus Königsberg, seine 1869 geheiratete Ehefrau Antonie war eine entfernte Nichte aus Hohenstein bei Stuttgart. Als Vorbilder hatte er sich keine Geringeren als die Finanz-Dynastie um die Augsburger Fugger des 16. Jahrhunderts oder den steinreichen Bankiers-Clan der Rothschilds auserkoren.
Umfassendes Studium im Militärdienst
Als Ernst Werner Siemens am 13. September 1816 als viertes von insgesamt 14 Kindern einer keineswegs wohlhabenden bürgerlichen Gutspächterfamilie in Lenthe bei Hannover geboren wurde, sprach wenig dafür, dass er einmal ein erfolgreicher Industrieller werden würde. In seiner Jugend setzte der Prozess der Industrialisierung ein, von dem ein Einzelner nur dann profitieren konnte, wenn er eine fundierte Bildung und Ausbildung genossen hatte. Diesbezüglich sah es bei Werner Siemens zunächst ziemlich schlecht aus. Nach dem Umzug der Familie nach Menzendorf bei Lübeck 1823 besuchte Siemens zwar ein Jahr lang eine Schule in Schönberg und wurde danach drei Jahre lang von einem Hauslehrer betreut. Doch 1834 musste er das Katharineum in Lübeck ohne Abschluss verlassen, weil seine Eltern sich das renommierte Gymnasium finanziell nicht mehr leisten konnten.
Dank herausragender Leistungen im Fach Mathematik schwebte Siemens ein naturwissenschaftliches Studium vor, das er jedoch nur durch Eintritt ins preußische Militär realisieren konnte. Auf Staatskosten erhielt er als Offiziersanwärter zwischen 1834 und 1847 eine grundlegende naturwissenschaftlich-technische Ausbildung. Bis Juni 1849 sollte er bei der Armee bleiben – ohne Karriere-Ambitionen, allein der Besoldung wegen. Beim Militär stand ihm zudem reichlich Freizeit für chemische und physikalische Experimente zur Verfügung, was sich im März 1842 in seinem ersten Patent für ein galvanisches Vergoldungsverfahren niederschlug.
Im Sommer 1846 stieß er erstmals auf einen von den beiden Engländern Charles Wheatstone und William Cooke entwickelten Telegrafenapparat. In Preußen war die neue elektrische Telegrafie-Technik noch nicht verbreitet, obwohl sich das Militär bereits das Monopol darauf gesichert hatte. Siemens entwarf einen eigenen, technisch deutlich verbesserten Zeigertelegrafen, für dessen filigranen Zusammenbau er Ende 1846 den Feinmechaniker Johann Georg Halske gewinnen konnte.
Schon hier zeigte sich eines der wichtigen Grundprinzipien des Siemens‘schen Erfolgs: Er erfand eigentlich nie etwas gänzlich Neues, sondern war geradezu genial im Perfektionieren von bereits bestehenden Innovationen. Nachdem Halske den ersten Telegrafen gebaut hatte, reichte Siemens das Modell bei der preußischen Telegrafenkommission ein, die sich daraufhin seine Dienste sicherte.
Ab 1875 Siegeszug der Starkstromtechnik
Damit war Siemens der Instanz zugeteilt, die über den Bau von Telegrafenlinien und die Vergabe der damit verbundenen Aufträge entschied. Für Siemens genau der richtige Zeitpunkt, gemeinsam mit Halske am 1. Oktober 1847 ein eigenes Unternehmen für Telegrafenbau zu gründen. Da beiden Jungunternehmern aber das nötige Startkapital fehlte, sprang mit dem Justizrat Johann Georg Siemens ein entfernter Verwandter mit einem Darlehen von 6.842 Talern in die Bresche. Setzt man die Kaufkraft damals mit der heutigen ins Verhältnis, entspricht dies umgerechnet einer Summe von mehr als 200.000 Euro. Am 12. Oktober 1847 nahm der als „Werkstatt Halske" firmierende Kleinbetrieb seine Arbeit in einem Berliner Hinterhaus in der Schöneberger Straße 19 auf, wo Siemens und Halske auch privat und ganz bescheiden wohnten.
Schon im Sommer 1848 erhielt der Kleinbetrieb einen prestigeträchtigen Großauftrag des preußischen Staates, nämlich eine 650 Kilometer lange Telegrafenlinie zwischen Berlin und Frankfurt am Main, wo die Nationalversammlung tagte, zu verlegen. Im Februar 1849 waren die Arbeiten abgeschlossen, es folgte der Bau der Telegrafenlinie Berlin-Aachen. Ab 1851 war es dann mit den preußischen Auftraggebern wegen diverser beschädigter Telegrafenkabel zum Zerwürfnis gekommen. Siemens sah sich dazu gezwungen, Aufträge im Ausland zu akquirieren. Mit Blick auf die angestrebte Expansion wurde ein Haus samt großem Areal in der Markgrafenstraße 94 erworben und das Unternehmen in „Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske" umbenannt. Wichtigster Partner sollte das russische Zarenreich werden, wo Siemens bis Mitte der 1850er-Jahre ein 9.000 Kilometer umfassendes Telegrafennetz aufbaute.
Mit Hilfe seines nach England übergesiedelten Bruders Wilhelm gelang Werner Siemens der Einstieg ins ebenso lukrative wie risikoreiche Seekabel-Geschäft, wofür im Londoner Stadtteil Woolwich 1863 sogar eine eigene Kabelfabrik errichtet wurde. Das erste Transatlantik-Kabel wurde 1874/1875 von Irland bis in die USA verlegt, bis Ende des 19. Jahrhunderts sollten es insgesamt neun Siemens-Überseekabel werden. Natürlich lief auch das normale Telegrafengeschäft weiter. So wurde im April 1870 eine 11.000 Kilometer lange Telegrafenlinie von London nach Kalkutta eingeweiht. Wegen des aus seiner Sicht riskanten Seekabel-Engagements schied Halske Ende 1867 aus dem Unternehmen aus. Im Jahr zuvor war Werner Siemens seine bedeutendste Leistung im Rahmen der von ihm so getauften „Elektrotechnik" gelungen, indem er – aufbauend auf den Arbeiten des Engländers Michael Faraday – das dynamo-elektrische Prinzip und durch Konstruktion einer darauf basierenden Dynamomaschine mit leistungsfähigen Generatoren die Grundlage der Nutzung von Elektrizität zur Energieversorgung entdeckt hatte.
Abgeordneter im preußischen Landtag
Nach zehn Jahren war der Dynamo 1875 serienreif, die „Starkstromtechnik" trat ihren Siegeszug an. 1879 präsentierte Siemens die erste elektrische Eisenbahn der Welt. Im gleichen Jahr wurde die Siemens-Villa in der Charlottenburger Berliner Straße 36 als erstes Privathaus Deutschlands elektrisch beleuchtet. 1880 konstruierte Siemens den ersten elektrischen Personenaufzug des Globus. Im Villen-Vorort Groß-Lichterfelde ließ er 1881 die erste elektrische Straßenbahn der Welt bauen. Auch mit großen Beleuchtungsanlagen für Bahnhöfe, Fabriken oder Hafenanlagen wurde gutes Geld verdient. Im Todesjahr von Werner von Siemens produzierte das Unternehmen alleine 1.000 Dynamomaschinen pro Jahr und machte mit seinen 6.500 Mitarbeitern einen Umsatz von 20 Millionen Mark.
Als typischer Techniker hatte Siemens keinerlei Hobbys. Nur die Politik interessierte ihn. Von 1862 bis 1866 war er als Abgeordneter der liberalen Deutschen Fortschrittspartei Mitglied des Preußischen Landtags. Seinem Engagement war die Einführung des Deutschen Patentgesetzes 1877 zu verdanken. Dank seiner finanziellen Unterstützung konnte 1887 die Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Charlottenburg eröffnet werden. Auch in seinem Unternehmen betätigte er sich als sozialer Wohltäter. Keineswegs uneigennützig, wollte er doch durch die Gewährung betrieblicher Sozialleistungen wie Erfolgsbeteiligung ab 1866 oder Gründung einer Pensions-, Witwen- und Waisenkasse anno 1872 die Mitarbeiter fest an sein Haus binden.
1890 schied der Elektropionier im Alter von 74 Jahren aus dem Unternehmen aus. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er auf Reisen, in seinem Landhaus in Bad Harzburg zum Verfassen seiner Autobiografie oder in seiner Charlottenburger Villa, wo der mit renommierten Auszeichnungen geradezu überhäufte Werner von Siemens am 6. Dezember 1892 wenige Tage vor seinem 76. Geburtstag friedlich im Kreis seiner Familie verstarb.