Das Thema Lebensmittelverschwendung beschäftigt Raphael Fellmer schon sein ganzes Leben. Er beschloss, etwas dagegen zu tun, und eröffnete in Charlottenburg den ersten „SirPlus"-Laden. Dort werden in großem Stil Lebensmittel verkauft, die andere entsorgen, obwohl sie noch genießbar sind.
Raphael Fellmer ist ein durch und durch positiver Mensch. Er lebt nach dem Motto: Machen statt meckern. Seine neuste Mission: Fellmer rettet Lebensmittel in großem Stil vor der Mülltonne. Fast 20 Millionen Tonnen Nahrungsmittel werfen die Deutschen pro Jahr weg. „Pro Minute wird in Deutschland eine Lkw-Ladung mit Lebensmitteln vernichtet", sagt er. Deshalb hat er im Berliner Stadtteil Charlottenburg seinen ersten Supermarkt namens „SirPlus" gegründet, in dem er überschüssige und abgelaufene Lebensmittel verkauft.
Das Thema Lebensmittelverschwendung brannte dem heute 34-Jährigen schon als Schüler und später als Student auf den Nägeln. Von Januar 2010 bis März 2012 hat er sich fast zwei Jahre vom „Containern" ernährt: Er hat in Müllcontainern von Supermärkten nach Essbarem gesucht. Raphael Fellmer tat das nicht aus Bedürftigkeit, sondern auch aus Protest gegen die weltweite Lebensmittelverschwendung. Dass er die Lebensmittelrettung jetzt am Ende dieser Entwicklung auf professionelle und wie er sagt „ganzheitliche" Füße stellt, ist eine logische Konsequenz. Für seine Idee der SirPlus-Läden – ein Wortspiel, weil „surplus" im Englischen „Überschuss" bedeutet – hat Fellmer sich mit Business-profis zusammengetan, um langfristig davon wegzukommen, von gespendeten Lebensmitteln abhängig zu sein. Denn der junge Mann will nicht nur ein paar Kisten, sondern ganze Lastwagenladungen mit Lebensmitteln retten – und das am besten täglich.
Großhandelsriese Metro ist derzeit der wichtigste Partner
Dazu passt, dass der Großhandelsriese Metro sein derzeit wichtigster Partner ist. Und er hat viele kleinere Partner, die alles anbieten – von der Palette Fruchtsaft über Brot bis hin zu frischem Obst und Gemüse. Mittels einer Internetplattform, die Fellmer einen „digitalen Marktplatz" nennt, wird es „allen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette ermöglicht, ihre überschüssigen Produkte einzustellen und somit Angebot und Nachfrage intelligent zusammenzubringen", erklärt Raphael Fellmer im schönsten Business-Sprech. Am Ende heißt das nichts anderes, als dass ein Bauer, der noch Karotten von der letzten Ernte eingelagert hat, sie aber nicht mehr verkaufen kann, diese Informationen auf der Webseite einstellt und die Abholung dann von den Lebensmittelrettern organisiert wird. So kann „SirPlus" Lebensmittel gleich tonnenweise vor der Vernichtung retten.
„SirPlus" zahlt etwas weniger als zehn Prozent des Originalpreises für die Ware, die oft ein wenig älter ist – wie Gemüse und Obst – oder deren Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) abgelaufen ist. Lebensmittel werden in Deutschland selten weggeworfen, weil sie tatsächlich ungenießbar sind, sondern weil es weniger aufwendig ist, abgelaufene Lebensmittel einfach wegzuwerfen, anstatt sie weiter zu verkaufen. Das will Fellmer grundlegend ändern. Und mit seinem „SirPlus"-Laden hat er ein fehlendes Glied in der Rückführungskette erdacht. Es gibt keinen gesetzlichen Zwang, Waren mit abgelaufenem MHD wegzuwerfen. Sie dürfen mit klarem Hinweis darauf, dass sie abgelaufen sind, unter bestimmten Bedingungen verkauft werden. Da bei den meisten Produkten im „SirPlus"-Laden das MHD abgelaufen ist, verlangt der Gesetzgeber, die Genießbarkeit streng zu prüfen. Dafür hat „SirPlus" eigens eine Lebensmittelhygienikerin angestellt. Sie prüft jede eingehende Ware. Täglich und mehrmals.
Würde ein „SirPlus"-Kunde nachweislich von den Lebensmitteln krank werden, wäre Raphael Fellmer als Geschäftsführer haftbar: „Immer nur zu sagen, abgelaufene Lebensmittel verkauft man besser nicht, weil es Risiken birgt, bringt uns nicht weiter. Ich sehe das als ein sehr kalkulierbares Risiko, das ich eingehen muss, wenn ich die Verschwendung ernsthaft reduzieren will".
Datum für Mindesthaltbarkeit ist kein Verfallsdatum
Der Verkauf von abgelaufenen Waren ist nur ein Mittel, die Vergeudung zu reduzieren. Beim Konsumenten ist ein Sinneswandel nötig: Ein abgelaufenes Haltbarkeitsdatum bedeutet weder, dass das Produkt schlecht oder ungenießbar ist, noch dass man bei seinem Verzehr ein gesundheitliches Risiko eingeht. „Vor dem Mindesthaltbarkeitsdatum stehen nicht die Worte ,tödlich ab…‘", bemerkt der Geschäftsmann mit Mission etwas frustriert. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist eben kein Verfallsdatum, und das Lebensmittel ist in der Regel auch nach dem angegebenen Datum noch verzehrbar. Das gilt auch für Waren aus der Vorratskammer zuhause. Raphael plädiert, dass wir uns im Zweifelsfall beim Prüfen vor dem Verzehr auf unsere Sinne verlassen: Riechen, Schmecken. Ist das Lebensmittel dabei durchgefallen, kann man es immer noch wegschmeißen.
„In Deutschland wirft ungefähr ein Drittel der Leute Waren mit einem abgelaufenen MHD ungeprüft und ungeöffnet weg. Von diesem Angstreflex müssen wir wegkommen", fordert Fellmer. Er setzt auf Verbraucheraufklärung. Hierzu zählt auch, dass zwischen Verbrauchsdatum und Mindesthaltbarkeitsdatum streng unterschieden werden muss. Das Verbrauchsdatum ist das Datum, ab dem Lebensmittel, die in mikrobiologischer Hinsicht sehr leicht verderblich sind und nach kurzer Zeit eine unmittelbare Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellen könnten – etwa Hackfleisch oder rohes Geflügelfleisch in die Tonne gehören.
Waren mit Verbrauchsdatum, die in der Regel Kühlung brauchen, gibt es derzeit bei „SirPlus" noch nicht.
Fellmer musste sein Lebensmittelrettungskonzept vor der Ladeneröffnung verteidigen, weil Kritiker befürchten, dass er mit seinen „SirPlus"-Läden mit gemeinnützigen Tafeln oder Stadtmissionen in Konkurrenz treten würde. Die Kritiker vergessen, dass gemeinnützige Organisation auch von der „SirPlus"-Infrastruktur und dem digitalen Marktplatz profitieren und das obendrein 20 Prozent von dem, was „SirPlus" zum Beispiel vom Metro-Konzern kauft, gespendet wird an Organisationen, die Essen an Bedürftige verteilen. „SirPlus" will die Arbeit von Tafeln in Bezug auf Lebensmittelrettung ergänzen, nicht schwerer machen.
Fellmer ist Transparenz wichtig. Deshalb lässt er es sich nicht nehmen, den Kunden auch im Einzelgespräch das System „SirPlus" zu erklären. Wenn das Konzept im Vergleich zum normalen Supermarkt eine Schwäche hat, ist es vielleicht die noch eingeschränkte Produktpalette. „SirPlus" will langfristig alle wichtigen Produktkategorien verlässlich abdecken. Dazu gehören: Backwaren, Obst und Gemüse und Getränke. Aber für Fellmer ist das nur eine Frage der Zeit.
Um die interessierten Kunden bei der Stange zu halten, gibt es einen Newsletter, der regelmäßig darüber informiert, welche Waren aktuell im Angebot sind.
Natürlich ist das Problem der Produktbreite andererseits auch eine Ursache für die Lebensmittelverschwendung.
Wir sind es gewohnt, dass fast alles ständig verfügbar ist. Diese Haltung muss sich laut Fellmer ändern. „Wenn es dann eben keinen Maracujasaft gibt, muss man als Konsument eben auch flexibel sein – und dann den Grapefruitsaft nehmen."
Fellmer träumt von 60 „SirPlus"-Läden europaweit
Eine solche Flexibilität sollte bei Preisen die zwischen 30 und 70 Prozent unter den Preisen im Supermarkt um die Ecke liegen, nicht so schwerfallen. Das Feedback bei den Kunden in den ersten Wochen nach der Eröffnung im September war sehr positiv. Das Problem Lebensmittelverschwendung liegt den meisten Verbrauchern am Herzen. Wie breit das Engagement von Raphael Fellmer und „SirPlus" Zustimmung findet, belegt auch die Tatsache, dass bei der Anschubfinanzierung durch Crowdfunding 1.700 Leute mitgemacht und 90.000 Euro gesammelt haben. Ein idealistischer Unterstützer hat ein Darlehen von 100.000 Euro gegeben.
Und der Idealismus hört beim Geld nicht auf: Der Vermieter für die Berliner Filiale überlässt „SirPlus" den Verkaufsraum bis zum Jahresende mietfrei. Dazu kommen ein unentgeltlich zur Verfügung gestellter Lagerraum und Rechtsanwälte, die pro bono arbeiten. Raphael Felder scheint einen gesellschaftlichen Nerv getroffen zu haben. Nimmt man den Metro-Konzern als Maßstab, gibt es auch Bewegung bei den Großhändlern. Metro hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2025 die Lebensmittelverschwendung im Konzern um 50 Prozent zu reduzieren.
Auch Raphael Fellmer hat sehr große Pläne. Er träumt langfristig von 60 Läden – nicht nur in Deutschland, sondern europaweit.
Dazu soll es schon in diesem Jahr einen Lieferservice für abgelaufene Lebensmittel geben, später auch einen Onlineshop. Fellmer will es schaffen, dass Lebensmittelretten cool ist, hip und sexy und will es aus der Schmuddelecke in die Mitte der Gesellschaft holen.