Im ersten Teil unserer neuen Serie „Die sieben Naturwunder" stellen wir den wasserreichsten und längsten Fluss des Globus’ vor. Der Amazonas ist die Lebensader des gesamten nördlichen Südamerikas. In seinem riesigen Einzugsbereich ist der weltweit größte Regenwald zuhause.
Wasserreichster Fluss, längster Strom und Hauptader des größten Fließgewässersystems unseres Planeten: Beim Amazonas lässt es sich vortrefflich in Superlativen schwelgen. Sein Einzugsgebiet hat eine Fläche von bis zu sieben Millionen Quadratkilometern, ist damit beinahe so groß wie Australien und erstreckt sich über neun südamerikanische Staaten, wobei der größte Teil zu Brasilien gehört. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war das gesamte Amazonasbecken, das häufig auch Amazonien genannt wird, von Regenwald bedeckt. Trotz verheerender Brandrodungen gibt es hier noch immer den weltweit größten zusammenhängenden Tropenwald der Erde mit einer schier unermesslichen Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten, von denen jede Menge bislang noch gar nicht entdeckt worden sind. Bekannt sind aber immerhin schon 250.000 Pflanzen, 750.000 Insektenarten und 40.000 Wirbeltiere.
Der in 5.170 Metern Höhe im südperuanischen Bergmassiv Nevado Mismi entspringende Amazonas wälzt sich über 6.992 Kilometer dank eines geringen Gefälles (38 Meter auf 1.000 Kilometer) vergleichsweise träge von der Quelle bis zum mehr als 200 Kilometer breiten Mündungsdelta. Dort führt er im Jahresmittel dem Atlantik rund 206.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde zu, was rund 17 Prozent des Süßwassers entspricht, das weltweit in die Ozeane fließt, und mehr Wasservolumen bedeutet, als die sechs nächstgrößeren Flüsse mengenmäßig addiert zusammenbringen können. In der Trockenzeit erreicht der Amazonas eine maximale Breite von elf Kilometern, in der Regenzeit kann er sich auf 45 bis 60 Kilometer ausdehnen und dabei riesige Gebiete überschwemmen. In den Amazonas münden rund 10.000 Nebenflüsse, von denen 17 mehr als 1.600 Kilometer lang sind (zum Vergleich der Rhein: 1.232 Kilometer). Das Flussbett des Amazonas ist so tief, dass Hochseeschiffe bis weit ins Landesinnere, 3.700 Kilometer flussaufwärts bis ins peruanische Iquitos fahren können.
Der Ur-Amazonas war übrigens in den Pazifik geflossen. Doch mit Entstehung der Anden musste der Strom seine Richtung ändern. Dabei hatte sich zunächst entlang der hohen Bergbarriere im Westen ein gigantischer See gebildet, dessen Wassermassen sich schließlich einen Abfluss gen Osten gesucht hatten. Heute ist Amazonien eine riesige Tiefebene, die im Westen von den Kordilleren, im Süden vom brasilianischen Bergland und im Norden vom Guayana-Hochland umrahmt wird. Der Name „Amazonas" geht der Legende nach auf den Dominikanermönch Gaspar de Carvajal zurück, der 1542 bei der ersten spanischen Entdeckerreise per Schiff durch den Amazonas-Dschungel mit dabei war und von Angriffen tollkühner Indianerfrauen berichtet hatte: „Dann kamen wir in das Reich der Amazonen. Sie kämpften gegen uns als Anführer an der Spitze ihres Volkes, mit langen Haaren und fast nackt, mit Pfeil und Bogen bewaffnet und so tapfer wie zehn Krieger." Obwohl diese Geschichte nachweislich bereits einige Jahrzehnte später unter europäischen Seeleuten bekannt war, ist es dennoch möglich, dass der Flussname tatsächlich vom indigenen Wort „Amassona" abgeleitet wurde. Das wiederum lässt sich mit „Schiffzerstörer" übersetzen, womit manche Einheimische die gelegentlich am Unterlauf des Amazonas auftretenden bis zu fünf Meter hohen Gezeitenwellen bezeichnet hatten. Da sie einen Höllenlärm machen, sind sie heute in Übernahme eines Indianerbegriffs als Pororoca (donnerndes Wasser) bekannt und werden von mutigen Surfern trotz Piranhas und Alligatoren zum kilometerlangen Wellenreiten genutzt.
Geheimnisvolle „Terra Preta"
Heute leben in Amazonien etwa 22 Millionen Menschen. Direkt am Fluss liegen nur wenige Städte, beispielsweise Iquitos oder Manaus mit dem berühmten Opernhaus im Renaissancestil. Früher war das wahrscheinlich gänzlich anders, wie es schon die ersten Europäer berichtet hatten. Doch ihren Aufzeichnungen über große Kulturen und zahlreiche Ansiedlungen entlang des Ufers wurde jahrhundertelang kein Glaube geschenkt. Schon allein weil man es für ausgeschlossen hielt, dass aus dem unfruchtbaren Amazonasboden genügend Nahrungsmittel zur Ernährung einer großen Menschenzahl gewonnen werden konnten.
Inzwischen konnten jedoch inmitten des kargen Urwaldbodens zahlreiche Flächen mit humusreicher Erde entdeckt werden. Dabei handelt es sich um eine uralte, von Menschenhand aus allem möglichen organischen Material hergestellte Komposterde, die von den Einheimischen „Terra Preta" (schwarze Erde) genannt wird. Falls es der Wissenschaft gelingen sollte, das Geheimnis dieser indianischen Erde zu entschlüsseln, könnte sich eine neue Terra Preta als der wahre Schatz Amazoniens erweisen. Viel wertvoller als Gold, für dessen Gewinnung moderne Schatzsucher im vergangenen Jahrzehnt mehr als 2.000 Tonnen Quecksilber in den Amazonas geleitet und damit die Fischfauna mit ihren 2.000 Arten (mehr als in allen anderen Flüssen der Welt zusammen) fraglos in Mitleidenschaft gezogen hatten. Terra Preta wäre garantiert auch ungemein hilfreich zur Wiederbelebung des brandgerodeten Regenwaldes. Dort sind trotz Düngung die Böden schon nach kurzer Zeit ausgelaugt, allenfalls von Großgrundbesitzern noch nutzbar für riesige Rinderweiden oder für Sojaplantagen in Monokultur. Auch internationale Saatgut- und Pharmakonzerne treiben immer mehr Raubgut am Regenwald, weil sie in dessen genetischer Vielfalt ein ungeheures Potenzial für neue Nutzpflanzen oder Medikamente vermuten.