Dem Berliner Verlag Matthes & Seitz ist zu verdanken, dass ein bereits 2004 veröffentlichter und vergriffener Text neu erschienen ist. „Der Akkordeonspieler" ist eine der wichtigsten Erzählungen der 1938 in Saarbrücken geborenen Marie-Luise Scherer.
Den russischen Akkordeonspieler Kolenko treibt es in den 1990er-Jahren nach Berlin. Er hatte in Kurorten auf der Krim mit seiner Musik gut leben können. Nach dem Zerfall der UdSSR ist Kolenko arbeitslos. Er muss Frau und Kinder ernähren, hat eine Einladung einer Frau aus Potsdam in der Tasche. Damit bekommt er ein befristetes Visum. Nach einer Odyssee landet er in Berlin und spielt in kalten U-Bahn-Schächten, sammelt Groschen für Groschen.
Nach Ablauf des Visums liefert Kolenko Geld und Geschenke in der Heimat ab. So geht das über Jahre. Immer ergattert er ein Visum, kommt bei einsamen Witwen unter oder haust in Absteigen. Um dieses Leben länger führen zu können, lässt er sich sogar scheiden, heiratet eine Frau und nimmt den Namen Karpow an.
Mit ihrer literarischen Reportage entführt Scherer die Leser in das Leben in Russland, führt dann aber immer wieder nach Deutschland. Das kärgliche Leben in der russischen Provinz als Kontrast zum erbärmlichen Leben einer einsamen Witwe. Im Zug nach Berlin werden die Gespräche der Mitreisenden notiert, wenn sie an ihren Hoffnungen auf ein besseres Leben teilhaben lassen. Jeder Mensch ist seine eigene Geschichte. Marie-Luise Scherer vermittelt: Das Leben ist zu kompliziert, um es zu verstehen. Aber sie beobachtet und beschreibt empfindsam.
Die handelnden Personen werden schonungslos und respektvoll dargestellt. Bei allem Wirbel während dieser unruhigen Zeit ringt Marie-Luise Scherer spürbar darum, alle Ereignisse auch leicht und teilweise heiter darzustellen. So wird dieses Buch zu einem Lesevergnügen. Die Autorin verzichtet auf Moralinsaures, erfreut aber mit einem dramaturgischen Rahmen, der aufatmen lässt.