Dimitrij Ovtcharov setzt in der kommenden Woche beim Jahresfinale der World Tour in Astana zum Sprung an die Spitze der Tischtennis-Weltrangliste an. Der 29-Jährige dominiert derzeit zusammen mit Altmeister Timo Boll die Szene und wäre nach seinem Landsmann erst der zweite Deutsche als Nummer eins der Welt.
Die Abstimmung für die Wahl zu „Deutschlands Sportler des Jahres 2017" endete Anfang Dezember für Dimitrij Ovtcharov gut zwei Wochen zu früh. Würden die deutschen Sportjournalisten noch bis zum dritten Advent votieren dürfen, wäre der deutsche Tischtennis-Star womöglich endgültig ein heißer Kandidat für eine Platzierung im Vorderfeld. Denn eine Woche vor Weihnachten kann Ovtcharov nach dem besten Jahr seiner längst schon als ausgesprochen erfolgreich anzusehenden Karriere beim Jahresfinale der World Tour im kasachischen Astana eines seiner größten Ziele erreichen und als zweiter Deutscher zur Nummer eins der Weltrangliste avancieren.
„Das wäre riesig", meint der 29-Jährige zu der historischen Chance auf die prestigeträchtige Spitze im Computerranking. „Das war in der Kindheit immer mein Traum, und jetzt bin ich so nahe dran. Das ist kaum zu glauben, auch weil es ja lange eigentlich unmöglich schien, die Chinesen von da oben verdrängen zu können."
Tatsächlich schien die Riege der gefühlt endlos nachwachsenden Weltmeister aus dem Reich der Mitte auf den Platz an der Sonne geradezu betonmäßig abonniert. Erlaubte sich einmal ein Chinese eine Schwächephase oder kam allmählich in die Jahre, war praktisch sofort ein anderer aus dem Team der „Dominatoren" zur Stelle. In die Phalanx der Asiaten einzubrechen mutete viele Jahre auch deshalb so ausgeschlossen an, weil bei den wichtigsten Turnieren stets gleich eine ganze Armada schier unbezwingbarer Topspieler aus dem Milliarden-Volk buchstäblich eine unüberwindbare „chinesische Mauer" bildete.
„Das war in der Kindheit immer mein Traum"
Nur punktuell konnten früher besonders Boll und einige wirklich nur ganz wenige andere Spieler aus dem Rest der Welt ein mehr oder weniger kleines Loch in diese Mauer schlagen. Fast kam einem der Konkurrenzkampf vor wie das Rennen Hase gegen Igel: Kaum hatten sich Boll und Co. wieder etwas Neues ausgedacht, hatten die Chinesen sowohl spielerisch als auch eben personell längst schon eine Antwort darauf parat und schmetterten einen Umsturzversuch nach dem anderen ab.
Umso höher ist Ovtcharovs spektakuläre Chance auf den „Machtwechsel" einzuschätzen. In Astana beim Turnier der 16 punktbesten World-Tour-Spieler des ausklingenden Jahres reichen dem Rechtshänder aufgrund seiner zahlreichen Erfolge schon Siege in den ersten beiden Runden und damit der Einzug ins Halbfinale zur Wachablösung. „Der ganze Lauf für mich in diesem Jahr und jetzt auch noch diese große Gelegenheit sind für mich immer noch ein wenig surreal und kaum zu begreifen", sagte Ovtcharov zu seiner komfortablen Ausgangsposition. Der letzte nicht aus China stammende Spieler an der Spitze der Weltrangliste war Timo Boll – vor beinahe schon sieben Jahren.
So unwirklich Ovtcharovs Entwicklung der vergangenen Monate auch erscheinen mag, so sehr hat der zweimalige Europameister dem Tischtennis in diesem Jahr seinen Stempel aufgedrückt. Bei seinen insgesamt sieben Titeltriumphen in 2017 gewann Ovtcharov zu Jahresbeginn als erster Spieler überhaupt das über 40 Jahre alte Eliteturnier „Europe Cup Top 16" zum dritten Mal und erst vor wenigen Wochen in Lüttich als dritter Deutscher nach dem früheren Weltmeister und heutigen Bundestrainer Jörg Roßkopf sowie Boll auch den Weltcup als das wichtigste Turnier nach Olympia- und WM-Wettbewerben.
Abgesehen von einem Blackout ausgerechnet bei der Heim-WM im Frühsommer in Düsseldorf schon im Achtelfinale, ordnete Ovtcharov die Hierarchie im Welttischtennis Stück für Stück neu. Fast im Gleichschritt mit der deutschen Nummer eins erlebte auch Boll durch mehrere Siege gegen chinesische Stars wie den lange für unbezwingbar geltenden Weltmeister und Olympiasieger Ma Long seinen „dritten Frühling", musste sich der Überlegenheit seines Nationalmannschafts-Kollegen aber in den Endspielen der bedeutenden China Open, des Weltcups und Anfang November auch bei den German Open in Magdeburg beugen.
„Dima ist momentan der stärkste Spieler der Welt"
„Dima", sagte Boll nach seiner Endspielniederlage in Magdeburg anerkennend über seinen langjährigen Trainingspartner, „ist momentan wohl wirklich der stärkste Spieler der Welt." Die Bestandsaufnahme des wiedererstarkten Rekordeuropameisters passte genauso ins Bild: „Es ist schön, wenn zwei Deutsche das Welttischtennis so ein bisschen dominieren."
Natürlich freut sich auch Roßkopf über die Erfolge seiner beiden Top-10-Asse. „Es macht riesig Spaß. Die Spieler haben Megaselbstvertrauen, schwimmen auf einer Welle des Erfolges und kriegen das Lächeln gar nicht mehr aus dem Gesicht", schilderte der Ex-Europameister in einem Zeitungsinterview.
Entsprechend würde „Rossi" Ovtcharov die Krönung zur Nummer eins in Astana mehr als nur gönnen. „Das wäre eine Bestätigung für seine Arbeit, denn er trainiert wahnsinnig intensiv. Und beim Deutschen Tischtennis-Bund würde es sehr stolz machen, wenn er das nach Timo als zweiter Deutscher schaffen würde."
Der Coup des Olympia-Dritten von 2012 würde beim DTTB außerdem Träume schüren. Goldene Träume. Der erste Triumph für die deutschen Herren bei einer Mannschafts-WM ist vor den Titelkämpfen im Frühjahr 2018 in Halmstad mittlerweile alles andere als Utopie.
„Nach dem Weltcup und den German Open muss man sagen, dass Dima und Timo mehr als nur Ausrufezeichen gesetzt haben und in der Lage sind, dem Welttischtennis ihren Stempel aufzudrücken", meint DTTB-Sportdirektor Richard Prause. „Beide sind nach ihren Nadelstichen beim Weltcup durch ihre Siege gegen Top-Chinesen auch in Magdeburg einen Schritt weiter. China bleibt das Maß aller Dinge, ist aber wirklich angreifbar geworden, und wir würden uns freuen, wenn die WM nicht erst im April beginnen würde."
Der Wunsch ist verständlich. Schließlich erschienen die Chinesen sowohl beim Weltcup vor drei Wochen trotz des Starts ihres Superstars Ma Long und in Magdeburg
auch mit einem Top-10-Quartett nur als Schatten ihrer selbst. So sehr wirkt offenbar eine aufsehenerregende „Rebellion" von Ma und Co. bei den China Open gegen Veränderungen im Trainerstab nach, dass Ovtcharov und Boll in das unverhofft entstandene Machtvakuum eindringen konnten.´
„Derzeit herrscht bei den Chinesen Unruhe"
Für Prause hat sich dadurch ein Zeitfenster zum historischen WM-Coup geöffnet: „Momentan herrscht bei den Chinesen eine gewisse Unruhe. Sie wirken kopflos und verunsichert. Vieles ist im Umbruch, wichtige Strukturen fehlen, und die Zuordnung von Trainern und Spielern scheint nicht hundertprozentig gegeben."
Gleichwohl würde Prause Roßkopfs Team in einem WM-Duell mit China „noch nicht in einer 50:50-Situation" sehen: „Die Dominanz der Chinesen ist momentan nicht so erdrückend. Aber sie werden alles daransetzen, sich wieder zu stabilisieren."
Zur Verhinderung von Ma Longs Ablösung durch Ovtcharov als Weltranglistenerster könnte die Rückkehr der Chinesen in die Erfolgsspur indes zu spät kommen. „Ich spiele zurzeit mein bestes Tischtennis", unterstrich der deutsche Topspieler vor der Abreise nach Kasachstan sein Selbstvertrauen wie auch Selbstverständnis gleichermaßen.
Durch seinen Höhenflug hat Ovtcharov denn auch nicht nur wegen seiner Erfolge Champion-Qualitäten bewiesen. Der Familienvater, der 2014 von einem Ausrüster aus Völklingen im Saarland (DONIC) mit einem „Rentenvertrag" über 20 Jahre ausgestattet worden ist, arbeitete sich nach seiner ersten wirklichen Leistungsdelle 2016 mit dem Viertelfinal-Aus bei Olympia in Rio und dem frühen Weltcup-K.-o. in Saarbrücken aus dem Tal wieder nach oben – und kehrte stärker als zuvor zurück.
Läuft nun alles nach Wunsch und auch einem sicher im Stillen ausgearbeiteten Plan, bekommt Ovtcharov in Astana schon zu Turnierbeginn noch einen zusätzlichen Motivationsschub: Der Europaspiele-Sieger gilt für die Welttischtennis-Gala am ersten Turniertag als Favorit auf die Auszeichnung als „Spieler des Jahres". Diese Wahl jedenfalls fand für Ovtcharov noch rechtzeitig statt.