Ab dem zweiten Advent fährt der ICE von Berlin nach München in unter vier Stunden. Die Bahn geht mindestens von einer Verdoppelung der Fahrgastzahlen auf der Strecke aus. Ein Trip auf der neuen Superstrecke hat allerdings nichts mehr mit Eisenbahnromantik zu tun.
Gefeiert wird zwar die Bahnstrecke Berlin – München. Doch genau genommen umfasst das „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 8" (VDE8) die Strecke zwischen Berlin und Nürnberg. 230 Kilometer komplett neu gebaute Strecke und 270 Kilometer Ausbaustrecke. Vor allem die Neubaustrecke hat es in sich, von Leipzig bis nach Ebensfeld im fränkischen Landkreis Lichtenfels, quer durch das Thüringer Schiefergebirge. Nur durch den Bau von 29 Brücken und 22 Tunnelungen war die Strecke überhaupt möglich. Zugleich hat die Bahn auch noch einen europäischen Höhenrekord im Thüringer Wald aufgestellt. Dort fahren erstmalig Hochgeschwindigkeitszüge durch sogenanntes schneesicheres Gebiet in 600 Meter Höhe. Das heißt, hier liegt im Winter garantiert immer Schnee.
Spätestens an dieser Stelle runzeln erfahrene Bahnkunden die Stirn. Denn bereits bei einem Zentimeter Neuschnee bricht auf der Schiene ja schnell mal alles zusammen. Doch es gibt noch weitere Feinde der Deutschen Bahn AG: Gerade vor wenigen Wochen hat sich gezeigt, wie anfällig die Bahnstrecken sind, zweimal musste nach den heftigen Herbststürmen das gesamte Bahnnetz in Nord- und Ostdeutschland über 48 Stunden vom Netz genommen werden. Hintergrund dürfte die Vernachlässigung bei der Unterhaltung der Strecken sein, schon seit Jahren werden Bäume und Strauchwerk an den Gleisen nur eingeschränkt zurückgeschnitten. Der Schaden der Stürme für die Bahn und die Transport- und Logistikbranche soll im hohen zweistelligen Millionenbereich liegen, so der Transportverband BVT. Und nun baut die Bahn AG also eine Bahnstrecke durch schneesicheres Gebiet. Projektleiter Olaf Drescher sieht dem bevorstehenden Winter auf der neuen Trasse natürlich entspannt entgegen, denn die Gleise liegen über dem Bodenniveau und sind gegen Verwehungen geschützt.
Schnelle Strecke mit Blick auf Betonwände
Bei diesem Projekt, das insgesamt über zehn Milliarden Euro verschlungen hat, ging es für die Bahn vor allem um die Zeit. Die Züge sollten unbedingt von Berlin nach München unter vier Stunden bleiben, damit wurde VDE8 zum teuersten Bauprojekt der Bahn nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch ähnlich wie bei Stuttgart 21 hielt sich beim 1991 beschlossenen VDE8 die Begeisterung in Grenzen. SPD-Verkehrsminister Franz Müntefering verhängte 1999 gar einen Baustopp, weil er das Geld woanders sinnvoller eingesetzt sah. Zum Beispiel wollte er damit lieber bröselnde Autobahnbrücken sanieren. Der Sauerländer wusste schon damals: Autofahrer sind auch Wähler.
Um die Autofahrer geht es auch der Bahn beim Bau der Superstrecke, die bislang zu den am schlechtesten ausgelasteten Bahnstrecken in Deutschland zählt. „Gegenüber dem Auto sind wir jetzt unschlagbar", freut sich Bahnchef Richard Lutz und hat große Ziele. Momentan erreicht die Bahn auf der Route zwischen Berlin und München nicht mal einen Marktanteil von 20 Prozent, in zwei Jahren soll dieser verdoppelt werden. Derzeit dominiert der Flugverkehr, über 50 Prozent der Reisenden auf der Strecke steigen ins Flugzeug. Geht es nach Bahnchef Lutz, soll in wenigen Jahren die Bahn das Hauptverkehrsmittel zwischen Berlin und München sein. Die Bahn hat Glück, denn nachdem Air Berlin kollabierte und die innerdeutschen Flugpreise, vor allem bei der Lufthansa, explodiert sind, kommt die Schnellstrecke auf der Schiene offenbar zum rechten Zeitpunkt. Bereits Ende Oktober, die erste Werbekampagne zur Schnellstrecke war angelaufen, „wurde gebucht wie verrückt", so eine Mitarbeiterin im Bahntower am Potsdamer Platz.
Mit Ach und Krach hat die Bahn ihr Ziel erreicht. Zunächst brauchen die Züge laut Fahrplan drei Stunden und 58 Minuten, im Frühjahr sollen es dann nur noch drei Stunden 55 Minuten sein. Doch die magischen vier Stunden könnten hin und wieder gerissen werden, denn bei Bamberg wird noch gebaut.
So eine Hochgeschwindigkeitsstrecke ist für Manager und eilige Reisende toll, für Eisenbahnromantiker allerdings sehr unerquicklich, weil einfach zu schnell. Von Berlin aus bis Erfurt geht es bei Tempo 200 beinahe noch gemütlich zu. Hinter der thüringischen Landeshauptstadt wird dann mit Tempo 300 gezeigt, wo der Eisenbahn-Hammer hängt. Für die Anwohner hat man großflächig Lärmschutzwände aufgestellt. Das ist gut und richtig. Doch der Fahrgast schaut nun auf orange, grüne, hellblaue oder auch graue Betonwände, das lädt nicht gerade zum Träumen ein.
Einzige Ausnahme für einen wunderschönen Ausblick ist die jetzt längste Eisenbahnbrücke Europas. Die Saale-Elster-Talbrücke südlich von Halle ist 8,5 Kilometer lang und steht zum Teil auf bis zu 20 Meter hohen Betonpfeilern. Doch nach diesem Naturschauspiel kommen dann die 22 Tunnel über insgesamt 57 Kilometer. Etwas empfindlichen Passagieren wird bei der Einfahrt mit dieser Geschwindigkeit das Gefühl eines „startenden Flugzeugs" in die Ohren gezaubert. Auf dieser Neubaustrecke fehlt dann noch ein ganz entscheidendes eisenbahntypisches Element – die Signale. Keine Lichtsignalmasten, die entweder rot oder aber rot/orange, am besten aber grün leuchten. Die Bahn setzt hier auf Transponder im Betongleis, das gute, alte Schottergleis hat man übrigens auch gleicht abgeschafft. Diese Transponder bekommen Funksignale vom Zug und melden diese an die Streckennetzzentrale – die stoppt den Zug, wenn es sein muss. Der Lokführer, fachlich richtig Triebfahrzeugführer, vorne im ICE3-Triebkopf schaut dem ganzen digitalen Treiben auf seinem Display zu. Er kann aber natürlich auch, wenn nötig, analog eingreifen.
Einst fuhr hier die „Taigatrommel"
Die alten Zeiten in Sachen Streckenführung sind auch endgültig vorbei, der Zug von Berlin nach München wird nun nicht mehr durch Naumburg, Jena, Saalfeld und Probstzella fahren. Sie sind die Verlierer der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke, was verständlicherweise im Saale-Tal für viel Ärger gesorgt hat. Doch die Bahn hat versprochen, den Regionalverkehr auszubauen. Das wird den Menschen in Probstzella auch nicht helfen, ihre Eisenbahnzeit scheint abgelaufen. 152 Jahre war Probstzella der Grenzbahnhof Deutschlands, erst zwischen dem Königreich Preußen und Bayern, dann zwischen sowjetischer und amerikanischer Besatzungszone, schließlich zwischen DDR und Bundesrepublik. Den Grenzbahnhof im Thüringer Wald wird manch Bahnreisender noch von vor dem Mauerfall gut in Erinnerung haben. Dort war zum einen der Lokomotivtausch, von Diesel auf Strom. Im Winter hieß dies aus Berlin kommend: Vorbei war´s mit dem warmen Abteil. Denn die dieselgetriebene, sechsachsige „Taigatrommel" wurde gegen eine westdeutsche Elektrolok ausgetauscht. Die sowjetische Güterzuglok hatte eine wesentlich höhere Aggregatleistung als die der Bundesbahn. Das führte dazu, dass die Heizungen in den Zügen im Osten geradezu kochten. Und da meistens die Thermostate in den Abteilwagen nicht wirklich funktionierten, gab es zwei Möglichkeiten: heiß oder kalt. Die Bundesbahn-Loks hatten nicht so viel Bums, die Heizung wurde gerade mal lauwarm.
Aber in Probstzella war auch die Passkontrolle – und da kam es immer darauf an, wie die politische Großwetterlage gerade so war. Die damalige Fahrzeit Berlin – München von zehn Stunden im Sommer und elf Stunden im Winter konnte nur gehalten werden, wenn die Stimmung zwischen den beiden deutschen Staaten auf Sonne stand. Denn dann wurde zügig „abgefertigt", was spätestens 1983, nach dem Milliardenkredit aus Bonn für die DDR, normal war.
Doch noch 1980, die Sowjets waren in Afghanistan einmarschiert, konnte eine Fahrt auch schon mal zwölf oder noch mehr Stunden dauern. Das ist inzwischen Geschichte, schon längst war die Fahrzeit ja halbiert. Nun schlägt das „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit" noch mal zu wie im Rausch – zumindest was die Fahrt von der deutschen in die bayerische Hauptstadt angeht.