Berliner Wissenschaftler erforschten und erfanden im Laufe der letzten 100 Jahre so manches: Giftgas und Kernspaltung, aber auch Heilmittel und das Elektronenmikroskop. Ein Streifzug durch die Wissenschaftsgeschichte.
Berlin ist heute wieder der größte Wissenschaftsstandort Deutschlands. Vor knapp 100 Jahren aber galt die deutsche Hauptstadt sogar weltweit als erste Adresse für Wissenschaft und Forschung: Albert Einstein und Robert Koch, Fritz Haber und Otto Hahn, Theodor Mommsen und Max Planck – sie alle zog es nach Berlin. Zwischen 1901 und 1932 lebten und arbeiteten 29 Nobelpreisträger hier und sorgten für den ehrenvollen Beinamen „Stadt der Nobelpreisträger“.
Berlin besaß zu dieser Zeit einen kaum vorstellbaren Reichtum an Wissenschaftseinrichtungen. Die Universität, die Preußische Akademie der Wissenschaften, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit 30 Instituten, die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, damals das am besten ausgerüstete Physikinstitut Deutschlands, die Technische Hochschule Charlottenburg, die Handelshochschule, die Hochschule für Politik, die Biologische Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft, die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt, die Charité ... In Sachen Medizin und Physik war Berlin unbestreitbar weltweit Spitze.
Dabei geschah wenig im luftleeren Raum bloßer Theorie. Viele der Wissenschaftler arbeiteten gezielt anwendungsorientiert. Robert Koch wollte die Tuberkulose besiegen. Paul Ehrlich forschte nach krebsauslösenden Blutzellen. Fritz Haber revolutionierte die Stickstoffdüngung für die Landwirtschaft (bevor er sich mit Giftgas für den Ersten Weltkrieg beschäftigte). Der Berliner Physiker Ernst Ruska (Nobelreis 1986) erfand 1931 als 25-Jähriger das Elektronenmikroskop und arbeitete später mit Siemens & Halske zusammen. Walter Nernst (Nobelpreis 1920) war Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Er untersuchte die Thermodynamik von Gasen. Seine Berechnungen waren für Industrie und Technik von erheblicher Bedeutung.
Wissenschaft als Opfer politischer Fronten
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 setzte der große Exodus der jüdischen und linken Wissenschaftler ein. Jeder fünfte Universitätsprofessor verlor seine Stelle. Die Nazis verengten den Wissenschaftsbetrieb auf Rassenlehre und Rüstungsforschung. In der „Deutschen Physik“ hatte die „jüdische“ Relativitätstheorie keinen Platz mehr. Was der „Deutschen Chemie“ in Zusammenarbeit mit der I.G. Farben gelang, zeigte sich spätestens in den deutschen Vernichtungslagern.
Den Nobelpreis verachteten die Nazis. Das hing mit dem Friedensnobelpreis zusammen, den Carl von Ossietzky (1889-1938) im Jahre 1936 erhielt. Da war er bereits von den Nationalsozialisten im KZ Börgermoor inhaftiert. Ossietzky war Mitbegründer und Organisator des Aktionsausschusses „Nie wieder Krieg“. Als im Ausland bekannt wurde, dass der Kriegsgegner und stets für Völkerverständigung eintretende Schriftsteller wegen seiner Gesinnung eingesperrt worden war, schlugen ihn prominente Pazifisten und 15 amerikanische Universitäten für den Nobelpreis vor.
Hitler verbot daraufhin Deutschen die Annahme von Nobelpreisen „für alle Zukunft“. Der in Berlin forschende Chemiker Adolf Butenandt, seit 1936 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biochemie in Berlin-Dahlem, wurde genötigt, den ihm für das Jahr 1939 zuerkannten Preis abzulehnen. Ebenso erging es dem Präsidenten der in Heidelberg ansässigen „Deutschen Chemischen Gesellschaft“, der den Chemiepreis für das Jahr 1938 zurückweisen musste. Dennoch ging gleich im Jahre 1945 ein Nobelpreis nach Berlin. Otto Hahn, seit 1928 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie, erhielt nachträglich den Chemienobelpreis des Jahres 1944 für seine 1938 gemachte Entdeckung der Kernspaltung des Urans und des Thoriums. Keinen Nobelpreis gab es für den Mann, ohne den wissenschaftliches Arbeiten heute gar nicht mehr funktionieren würde. Der Bauingenieur Konrad Zuse erfand 1941 den ersten voll funktionsfähigen Computer Z 3. Der typische Einzelkämpfer arbeitete für die Henschel-Werke in Berlin-Schöneberg und trug mit seinen Rechnern zur Rüstungsproduktion bei. Nach 1945 gründete er mit dem Z 4 seine eigene Firma, die „Zuse KG“, die bis 1964 Bestand hatte.
Nach 1945 hatten die Alliierten in Berlin das Sagen. Der Kontrollrat untersagte für zahlreiche Gebiete der theoretischen und angewandten Physik jegliche Forschung. Als Reparationsleistungen gingen viele Institute und Laboratorien in die Sowjetunion. Die Amerikaner boten Wissenschaftlern wie dem Raketenforscher Wernher von Braun neue Betätigungsmöglichkeiten.
Die renommierten Forschungsinstitute waren schon im Krieg nach Westdeutschland verlagert worden. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft fing in Göttingen neu an, jetzt aber unter dem neuen Namen Max-Planck-Gesellschaft. Die Charité lag jetzt im sowjetisch besetzten Sektor. Die in Adlershof ansässige Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) gründete ein neues Institut in Essen.
Die politische Frontstellung trennte Forschungsinstitute und Sammlungen. Auch die Hochschulen sortierten sich nach Ost und West. Zwar öffnete 1946 die Universität Berlin (ab 1949 Humboldt-Universtät) wieder ihre Pforten für alle Studenten. Doch sie stand unter der ideologischen Kontrolle der sowjetischen Besatzungsmacht. Studenten und Lehrkräfte, die dagegen protestierten, wurden vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und verschleppt. Als Reaktion darauf erfolgte 1948 die Gründung der Freien Universität in West-Berlin. Sie siedelte sich im Villenvorort Dahlem an. War die Stimmung an der FU zu Anfang streng antikommunistisch, so wurde die Uni in den späten 1960er- und 1970er-Jahren zum Zentrum der APO und der Studentenrevolte. Sie wuchs auf über 50.000 Studenten in den 1980er-Jahren und war eine der ersten Massenuniversitäten. Die Technische Universität (TU) wurde 1946 neu gegründet, um sie von ihrem Vorläufer abzugrenzen. Die Technische Hochschule mit ihrer wehrtechnischen Fakultät war sehr stark mit dem Nationalsozialismus verbunden gewesen.
In Ost-Berlin beherrschte eine Wissenschaft nach Plan Lehre und Forschung. Unter der Regie der 1946 gegründeten Deutschen Akademie der Wissenschaften (1972 umbenannt in Akademie der Wissenschaften der DDR) entstand in Adlershof ein großes naturwissenschaftliches Forschungszentrum für Physik, Chemie, Material-, Luft- und Kosmosforschung. Dort standen sowohl die Grundlagen- als auch die Anwendungsforschung im Mittelpunkt. Anders im Westen: Dort war die Grundlagenforschung an den Universitäten angesiedelt.
In beiden Teilen Berlins erreichte die Wissenschaft zwar internationale Standards innerhalb des jeweiligen Bündnissystems. Doch Nobelpreise gab es weder für Ost- noch für West-Berliner Forscher. Berlin war jedoch ein Dorado für Wissenschaftsspionage. Anfangs transferierten Grenzgänger zwischen Ost und West ihre Erkenntnisse über die offene Grenze. Später wurden die Methoden raffinierter. Die Folge davon war, dass sicherheitskritische Forschungsinstitute aus West-Berlin wegzogen.
Als 1989 die Mauer fiel, waren in Adlershof 5.600 Menschen beschäftigt. Nach der Wiedervereinigung wurden die Akademie der Wissenschaften, das DDR-Fernsehen und das in Adlershof stationierte Wachregiment „Feliks Dzierzinski“ abgewickelt. Das (west-) Deutsche Luft- und Raumfahrzentrum (DLR) vereinbarte mit dem Institut für Kosmosforschung eine Zusammenarbeit. Aus der DDR-Akademie gingen acht außeruniversitäre Forschungseinrichtungen hervor, darunter die DLR-Institute für Weltraumsensorik und Planetenerkundung.
Heute gehört Berlin zu den größten und vielfältigsten Wissenschaftsregionen in Europa. An vier Universitäten, der Charité-Universitätsmedizin Berlin, sieben Fachhochschulen, drei Kunsthochschulen, 30 privaten Hochschulen sowie über 60 Forschungsstätten lehren, forschen, arbeiten und studieren rund 200.000 Menschen aus aller Welt. Unter ihnen etwas mehr als 25.000 Professorinnen und Professoren, Dozenten, Lehrbeauftragte und wissenschaftliche Mitarbeiter.
Und tatsächlich: 2017 bekommt ein gebürtiger Berliner den Nobelpreis für Physik (oder zumindest einen Teil davon). Rainer Weiss wurde zusammen mit Kip Thorne und Barry Barish für den im September 2015 gelungenen Nachweis der Einsteinschen Gravitationswellen ausgezeichnet. Weiss, mittlerweile 85 Jahre alt und längst US-Amerikaner, hätte seine Entdeckung niemals in Berlin machen können – er musste als Kind jüdischer Eltern 1939 fliehen. So lange wirkt 1933 nach.