Herzstück des Technologieparks Adlershof ist „Bessy II“. Was possierlich klingt, ist eine Hightech- Anlage für die internationale Spitzenforschung. Unerlässlich beim Erkunden von Zukunftstechnologien und heiß begehrt unter Forschern aus dem In- und Ausland.
Eine Münze rauscht in den Schlitz einer Jukebox, Country-Musik erfüllt sanft den Raum und eine Kaffeemaschine gluckert gemütlich im Hintergrund. Die Bedienung des American-Diner rollt lässig mit ihren Rollerblades durch den ringförmigen Gastraum Richtung Kundschaft: Das ist die Eingangsszene eines bunten Imagefilms des Helmholtz-Zentrums Berlin – mit Knetfiguren in Stop-Motion gedreht.
„Ich hätte gerne etwas mit Raman-Scattering, ein bisschen was Zartes. Wissen Sie, ich habe diese Valenzelektronen und will ihre Energieniveaus messen“, eröffnet die Kundin das Gespräch. „Wie wäre es mit RIXS?“, antwortet die Bedienung auf den Rollerblades und zeigt auf eine mit Kreide beschriebene Schiefertafel über der Theke. „Ist gerade frisch reingekommen …“ Die Kundin ist unschlüssig. „Hmmm … weiß nicht. Meine Probe ist echt ziemlich klein …“ Doch das Roller-Girl weiß Rat: „Mikrometer RIXS dann“, flötet sie bestens gelaunt. „Oh, das haben Sie?“, ruft die Kundin aufgeregt. „Bei 400 Elektronenvolt? Das ist ja wundervoll!“
Kein Wort verstanden? Dann haben Sie vielleicht ein paar Semester zu wenig Physik studiert. Oder waren bislang an naturwissenschaftlichen Themen nicht sonderlich interessiert. Der Imagefilm des Helmholtz-Zentrums Berlin wird daran vermutlich wenig ändern. Obwohl, zugegeben, der Film auch für Laien lustig anzusehen ist. Doch wer nutzt schon mal zwischendurch einen Elektronen-Speicherring von 240 Metern Länge mit angeschlossener Experimentierhalle? Vor allem, wenn die Minute viele tausend Euro kostet?
Der Film zeigt, was „Bessy II“ tatsächlich ist: Ein Paradies für Forschungs-Nerds aus dem In- und Ausland. Für Forschungsverrückte, die schnell noch mal ein paar Femtoslices dazwischen schieben wollen, diesmal aber mit höherer Repititionsrate. Schon wieder nichts verstanden?
Gut, versuchen wir es mal verständlicher. „Bessy II“ in Berlin-Adlershof ist eine Ringanlage, die Elektronen speichert und in Bewegung versetzt. Dadurch liefert „Bessy II“ sogenanntes Synchrotronlicht. Dieses Licht entsteht, wenn Elektronen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und im Kreis geführt werden. Wenn dieses SynchroÂtronlicht auf die Oberfläche bestimmter Materialien gelenkt wird, lassen sich dadurch mikroskopische Strukturen und Vorgänge erkennen und verstehen. Insbesondere neue, effiziente Materialien für die Energie- und Informationstechnologie lassen sich mit dieser Methode weiterentwickeln. „Bessy II“ funktioniert quasi wie ein Röntgengerät und ein Elektronenmikroskop zusammen. Denn der Speicherring kann Licht in verschiedensten Wellenlängen abstrahlen, sichtbares Licht genauso wie harte Röntgenstrahlung. An 50 Experimentierplätzen können die Forscher ihre Proben mit Synchrotronstrahlung bestrahlen und beleuchten lassen.
Was sie dort sehen, hilft ihnen zum Beispiel, die Leitfähigkeit von Materialien zu erhöhen. Sogenannte Supraleiter ermöglichen heute schon einen komplett verlustfreien Stromtransport – doch sie funktionieren nur bei extrem niedrigen Temperaturen, weil sie dann ihren elektrischen Widerstand verlieren. Forscherteams in aller Welt suchen mithilfe von „Bessy II“ nach Erklärungen, warum das so ist und wie man das Phänomen nutzbar machen kann. Sie wollen gezielt Materialien entwickeln, die im günstigsten Fall bereits bei Zimmertemperatur elektrische Ladungen verlustfrei transportieren. Das würde Milliarden Euro an Stromkosten sparen und gleichzeitig helfen, die Umwelt zu entlasten.
Die Forscher kommen aus 30 Ländern
Deshalb ist die Anlage in Adlershof so wichtig – und so begehrt. Mehr als 2.500 Nutzerbesuche wurden im Jahr 2015 am Elektronenspeicherring registriert. Sie verteilten sich auf 364 Forschergruppen aus über 30 Ländern. An 251 Tagen im Jahr wurde die Speicheranlage für die wissenschaftliche Nutzung betrieben – das sind 6.040 Betriebsstunden.
Doch wer darf, wer kann die Hochtechnologie-Maschine im Berliner Südosten überhaupt nutzen?
Die Messzeiten an „Bessy II“ werden nach einem auf der wissenschaftlichen Exzellenz der Forschungsanträge basierenden externen Begutachtungsverfahren vergeben. Eine spezielle Vereinbarung besteht zurzeit mit russischen Partnern, für die ein gewisses Kontingent an Forschungszeit vorgemerkt ist.
Damit auch Universitäten Zugang zur Instrumenten- und Methodenentwicklung an Forschungsinfrastrukturen wie „Bessy II“ erhalten, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein einzigartiges Förderinstrument entwickelt: Im Rahmen der sogenannten Verbundforschung können Universitäten ausgewählte Instrumente und Methoden an „Bessy II“ weiterentwickeln und neue Messplätze aufbauen. Auf diese Weise wird die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Synchrotronlichtquelle gesteigert – und den Universitäten bieten sich gleichzeitig Forschungsmöglichkeiten, die über die eigenen Labore hinausgehen. Im Dreijahres-Rhythmus finden auf nationaler Ebene Ausschreibungen für neue Förderkampagnen der Verbundforschung statt.
Doch bevor es für Otto-Normal-Verbraucher wieder zu speziell wird: Der humorvolle Imagefilm ist bei Weitem nicht das einzig Öffentlichkeitswirksame, was „Bessy II“ zu bieten hat. Denn die Anlage leistet ebenso wichtige Expertisen im Dienst von Kunst und Kultur. So lassen sich mit dem SynchroÂtronlicht historische Objekte überaus schonend und absolut zerstörungsfrei untersuchen.
Prominentes Beispiel: die Himmelsscheibe von Nebra. Eine absolut beschädigungsfreie Analyse des rund 4.000 Jahre alten Kulturobjekts brachte wichtige Erkenntnisse. Die älteste bekannte Abbildung des nächtlichen Sternenhimmels wurde offensichtlich in mehreren Phasen erschaffen, und die Materialien stammen aus verschiedenen Teilen Europas. Das ergab die Analyse im Elektronenspeicher an einem der Experimentierplätze. Die historischen Schlussfolgerungen aus der rein physikalischen Analyse sind sehr weitreichend und revidieren unser Weltbild von einer Lebenswelt mitten im heutigen Deutschland von vor vier Jahrtausenden. Denn die Analyse belegt Reiseaktivitäten, die in jener Zeit bislang als ausgeschlossen galten.
Mit Synchrotronlicht lässt sich auch die chemische Zusammensetzung von Gemälden oder Kunstgegenständen genauestens analysieren. Beispielsweise wurde das Licht genutzt, um den „Schmuck der Kaiserinnen“ aus dem 11. Jahrhundert zu untersuchen, auch bekannt als „Giselaschmuck“. Die einzelnen Schmuckstücke aus Feingold weisen vielfältige Verzierungen mit Edelsteinen, Perlen und antiken Gemmen auf. Anhand der Materialzusammensetzung können Kunsthistoriker Rückschlüsse auf Bearbeitungsschritte zu verschiedenen Zeitpunkten ziehen.
Wie vielfältig der Berliner Ringspeicher einsetzbar ist, zeigt sich spätestens in der Medizin. Biologen haben an „Bessy II“ erstmals die dreidimensionale Struktur eines Molekülkomplexes darstellen können, der bei der Vermehrung von HI-Viren eine wichtige Rolle spielt. Mediziner erhoffen sich davon nicht nur neue Erkenntnisse für die Entwicklung aussichtsreicher Aids-Therapien, sondern auch neue Wege in der Tumorbehandlung. Damit lässt die Anlage in Adlershof Grenzen der Professionen und Wissenschaften verschwimmen. Physiker, Biologen, Mediziner und Kunsthistoriker geben sich die Klinke in die Hand am Forschungsstandort Nummer eins in Berlin.
Angesichts dieser Nutzungsvielfalt und -dichte könnten die enormen Baukosten, die in die am 4. September 1998 eingeweihte Anlage investiert wurden, als ein Beispiel gelungener Anwendung von Steuergeldern gelten: 200 Millionen D-Mark wurden damals in den wachsenden Technologie-Standort Adlershof gepumpt. Die Rechnung ging auf. Das Herz von Adlershof schlägt im „Bessy II“ – die Schlagzahl wird stetig erhöht. Der Elektronenfluss im nicht versiegenden Kreislauf des Speicherrings wird so schnell nicht abreißen. Denn die Wissenschaftler sind sicher: Trotz stetigem Kreisverkehr wird Elektronen nicht schlecht.
Vom Roller-Girl im American-Diner des Animationsfilms ist allerdings nicht überliefert, wie viele Runden sie im Ring-Restaurant verkraftet.