Obwohl Heinrich Böll zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gezählt wird, wird auch zum 100. Geburtstag des Kölner Nobelpreisträgers unverändert über seinen Rang in der Literaturgeschichte diskutiert.
Der Böll war als Typ wirklich klasse. / Da stimmten Gesinnung und Kasse. / Er wär’ überhaupt erste Sahne, / wären da nicht die Romane." Was der deutsche Schriftsteller Robert Gernhardt 1994 über seinen Kollegen Heinrich Böll gereimt hatte, klang bezüglich des literarischen Schaffens und Stellenwerts des Nobelpreisträgers von 1972 alles andere als schmeichelhaft. Auch im Dezember 2017, da sich Bölls Geburtstag zum 100. Mal jährt, ist die Frage nach Bölls ästhetischem Rang unverändert aktuell. Immerhin dürfte es kaum einen anderen Autor geben, der sich post mortem so häufig die Frage gefallen lassen muss, was von ihm geblieben ist. Jedenfalls keinen, dem schon zu Lebzeiten vergleichbarer Erfolg und Anerkennung zu Teil wurden.
„Heinrich Böll, der Schriftsteller, der in seinem Werk lediglich seine Zeit darstellen wollte und damit für alle Zeiten schrieb, wird nicht in Vergessenheit geraten." Diese Aussage von Siegfried Lenz wenige Tage nach dem Tod seines engen Freundes Ende Juli 1985 kann heute durchaus angezweifelt werden. Abseits der großen Jubiläumsfeierlichkeiten redet kaum jemand mehr von Böll. Im Deutschunterricht, wo einige seiner Bücher früher häufig Pflichtlektüre waren, taucht er nur mehr selten auf. Seine Werke werden oft nur noch als gut gemeint, aber veraltet, nicht mehr zeitgemäß belächelt. Der frühere Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki empfand allenfalls ein paar Kurzgeschichten Bölls als lobenswert. Sein Kritikerkollege Hellmuth Karasek wies darauf hin, dass für die Verleihung des Literatur-Nobelpreises „eher moralische als literarische Gründe maßgebend waren. Er bekam ihn fast in einer ‚Parallelaktion’ zum Friedensnobelpreis des Bundeskanzlers Willy Brandt."
Kritischer Geist der Nachkriegszeit
Das Dilemma rund um Heinrich Böll und seine Karriere als Autor war, dass man den politisch und sozial engagierten Menschen, der sich dabei auch als Publizist und Essayist ebenso wortgewaltig wie kontrovers einzumischen pflegte, unmöglich von seinem Werk trennen kann. Bölls Ansehen als Schriftsteller wurde von seinen Zeitgenossen stets auf das engste mit seiner Person, seinem öffentlichen Auftreten und seiner Ausstrahlung verbunden. Heute ist Heinrich Böll, „der gute Mensch von Köln" oder das „Gewissen der Nation", wie er häufig genannt wurde, laut der „FAZ" „zu einem Sinnbild der alten Bundesrepublik geworden: ihrer guten Seite wie auch ihrer ganzen Beschränktheit und Biederkeit."
Heinrich Böll wurde am 21. Dezember 1917 in der Kölner Südstadt als sechstes Kind des Schreinermeisters und Holzbildhauers Viktor Böll und dessen Ehefrau Maria geboren. Vier Jahre später zog die Familie in den damals noch ländlichen Kölner Bezirk Raderberg um. Nach Absolvierung der Volksschule in Köln-Raderthal zwischen 1924 und 1928 besuchte Heinrich das humanistische Kölner Kaiser-Wilhelm-Gymnasium, wo er – obwohl sein Vater schon 1929 Konkurs hatte anmelden und die Familie nach Verkauf des Raderberger Hauses wieder in die Kölner Südstadt hatte zurückziehen müssen – im März 1937 das Abitur ablegte. Danach begann Böll für wenige Monate eine Lehre in der Buchhandlung Math. Lempertz in Bonn. Im November 1938 wurde er zum Arbeitsdienst eingezogen. Im April 1939 hatte er sich an der Kölner Universität in den Fächern Geschichte und klassische Philologie immatrikuliert.
Etwa in diese Zeit fallen auch seine ersten literarischen Versuche, allerdings sollte der 1939 in Tagebuchform verfasste Roman „Am Rande der Kirche", in dem sich Bölls spätere äußerst kritische Einstellung gegenüber der katholischen Amtskirche und dem bürgerlichen Katholizismus schon andeutete, erst in der 27 Bände umfassenden und 2010 abgeschlossenen Werkausgabe des Verlags Kiepenheuer & Witsch erstmals publiziert werden. Böll, dem dank des in seinem Elternhaus gelebten römisch-katholischen Glaubens jegliches Nazi-Gedankengut fremd war, versuchte alles, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Im Herbst 1939 wurde er einberufen, lernte den Krieg bei Einsätzen in Frankreich, Polen, der Sowjetunion, Rumänien und Ungarn hassen. Während eines Fronturlaubs heiratete er 1942 die Lehrerin Annemarie Cech, mit der er nach Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft und Rückkehr nach Köln im September 1945 bald drei Söhne haben sollte: Raimund, René und Vincent.
Fasziniert von der Grünen Insel
Obwohl sich Böll 1946 erneut an der Kölner Uni eingeschrieben hatte, diesmal im Fach Germanistik, verbrachte er doch den Großteil seiner Zeit mit dem Verfassen erster Kurzgeschichten oder Romane, die allesamt den Krieg oder die unmittelbaren Nachkriegsjahre mit der aus Bölls Sicht unzureichenden Entnazifizierung zum Thema hatten. Der 1946/1947 entstandene Roman „Kreuz ohne Liebe" sollte erst 2002 publiziert werden. Bölls erste Veröffentlichung überhaupt war die Kurzgeschichte „Aus der Vorzeit", die am 3. Mai 1947 im „Rheinischen Merkur" erschien. Einige Monate danach gelang es Böll, eine später von Reich-Ranicki gelobte Kurzgeschichte mit dem Titel „Der Mann mit den Messern" in der Kasseler Literaturzeitschrift „Das Karussell" unterzubringen. 1949 erhielt er seinen ersten Vertrag beim Kölner Friedrich Middelhauve Verlag, der noch im gleichen Jahr mit der Erzählung „Der Zug war pünktlich" für Bölls erste Buchveröffentlichung verantwortlich zeichnete. 1950 folgte der Kurzgeschichten-Sammelband „Wanderer, kommst du nach Spa …", mit dem sich Böll als einer der wichtigsten Vertreter der Trümmer- und Kriegsheimkehrer-Literatur profilierte. Nach Erscheinen des Romans „Wo warst du, Adam" anno 1951 wechselte Böll im folgenden Jahr, den Ehrenpreis der Gruppe 47 für seine Satire „Die schwarzen Schafe" im Gepäck, zum Kölner Verlagshaus Kiepenheuer & Witsch.
Im Laufe der 50er-Jahre wendete sich Heinrich Böll in seinen Werken immer stärker den Alltagsproblemen der jungen Bundesrepublik zu, wobei er die restaurative Adenauer-Politik und die Wiederbewaffnung ebenso kritisch unter die Lupe nahm wie den Konsumzwang oder die offen mit den Unionsparteien paktierende katholische Amtskirche. Den literarischen Durchbruch schaffte Böll, der sich allzeit auf der Suche „nach einer bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land" wähnte, 1953 mit dem Roman „Und sagte kein einziges Wort", gefolgt 1954 vom Roman „Haus ohne Hüter". In diesem Jahr bezog Böll ein eigenes Haus im Kölner Stadtteil Müngersdorf. Viel beachtet wurden auch Bölls halbdokumentarische Reisenotizen „Irisches Tagebuch" 1957. Drei Jahre zuvor war Böll erstmals auf die Grüne Insel gekommen und hatte sich 1958 auf Achill Island ein eigenes Cottage gekauft.
Kesseltreiben des Boulevards
Ende der 50er-Jahre entwickelte Böll einen innovativeren, progressiveren Schreibstil, sein Roman „Billard um halb zehn" wurde von der Kritik als Paradebeispiel für eine „neue deutsche Literatur" gefeiert. Mit „Ansichten eines Clowns" landete Böll 1963 einen ebenso kontrovers diskutierten wie erfolgreichen Bestseller. Dieser wurde ebenso verfilmt wie der Roman „Gruppenbild mit Dame", 1971, der Bölls internationalen Bekanntheitsgrad so rasant steigerte, dass die Schwedische Akademie ihm 1972 sogar den Literatur-Nobelpreis verlieh: Böll stehe für „eine Dichtung, die durch ihren zeitgeschichtlichen Weitblick in Verbindung mit ihrer von sensiblem Einfühlungsvermögen geprägten Darstellungskunst erneuernd im Bereich der deutschen Literatur gewirkt hat."
Nachdem Böll im Januar 1972 in einem „Spiegel"-Artikel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?" die Berichterstattung der „Bild"-Zeitung im Zusammenhang mit der Terrorismusdebatte kritisiert hatte, reagierte die Springer-Presse mit einem regelrechten Kesseltreiben, nannte Böll sogar „Sympathisant der Terroristen und deren geistiger Vater". Böll konterte 1974 literarisch mit seinem Bestseller „Die verlorene Ehre der Katharina Blum". Der Terrorismus und die Nachwirkungen der RAF standen auch im Mittelpunkt von Bölls letztem noch zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Roman „Fürsorgliche Belagerung" anno 1979.
Das Schreiben geriet wegen Bölls starkem Engagement für Frieden und Abrüstung immer mehr in den Hintergrund. Er hatte die russischen Dissidenten Alexander Solschenizyn und Lew Kopelew bei sich aufgenommen und war in der Anti-Atomkraft-Bewegung ebenso aktiv wie 1983 bei der Blockade des Raketenstützpunkts Mutlangen. Er galt als prominenter Unterstützer der noch jungen Partei Die Grünen. In seinen letzten Lebensjahren verschlechterte sich sein Gesundheitszustand stetig. Er starb am 16. Juli 1985 im Alter von 67 Jahren an den Folgen eines langjährigen Gefäßleidens in seinem Landhaus im Voreifel-Dörfchen Langenbroich. Obwohl der gläubige Christ Böll offiziell aus der Kirche ausgetreten war, erhielt er drei Tage später ein katholisches Begräbnis auf dem Friedhof des Ortes Bornheim-Merten, in dem er seit 1982 gewohnt hatte. Bei seinem letzten Weg erwiesen ihm auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Kollegen mit Günter Grass an der Spitze die letzte Ehre.