Das Saarland hat sich vor 70 Jahren eine Landesverfassung gegeben. In ihren Grundzügen und mit ihren Veränderungen spiegelt sie die „Leitkultur der Integration unserer Gesellschaft", sagt Justizstaatssekretär Roland Theis.
Herr Theis, dass es ein Grundgesetz gibt, ist eigentlichem jedem geläufig. Bei der saarländischen Landesverfassung ist das nicht unbedingt so. Woran liegt das?
Auch das Grundgesetz steht ja immer dann im besonderen medialen Interesse, wenn beispielsweise prominente Fälle am Bundesverfassungsgericht verhandelt oder politische Debatten mit Verfassungsrelevanz geführt werden. Das kommt bei einer Landesverfassung in der Tat seltener vor. Dennoch steht sie in ihrer objektiven Bedeutung für das Bundesland nicht hinter der des Grundgesetzes zurück.
Das Land hat bekanntlich einen Sonderweg genommen, der sich auch in der Verfassung widerspiegelt. Welchen Geist atmet die Landes-Verfassung?
Unsere Landesverfassung ist in vielfacher Hinsicht ein besonderes Stück europäischer Verfassungsgeschichte. Das gilt zunächst natürlich für ihre Entstehungsgeschichte. Zwei Jahre nach dem Ende der vollständigen militärischen und moralischen Niederlage Deutschlands als französische Protektoratsverfassung war ihre Entstehung nicht lediglich Ausdruck des freien politischen Willens der Bevölkerung an der Saar, sondern abhängig vom Placet Frankreichs. Man darf nicht vergessen: Das Saarland war 1947 immer noch der alte Zankapfel zwischen Deutschen und Franzosen. Dass durch das Werk visionärer Europäer unser Land diese Feindschaft überwinden konnte, konnten die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung 1947 noch nicht wissen. Es war vielmehr ein kühner Traum, eine politische Vision, der sich in den Debattenprotokollen noch heute nachlesen lässt. Denn das Bekenntnis zu Europa war bereits damals präsent und ist in den Jahrzehnten danach in der Landesverfassung immer weiterentwickelt worden. Die europäische Orientierung unseres Landes ist daher wohl einer der prägenden Leitgedanken unserer Verfassung.
Wodurch unterscheidet sich die saarländische Verfassung von der anderer Länder?
Neben dem europäischen Gedanken sind in unserer Landesverfassung Schwerpunkte erkennbar, die selbstverständlich auch vor dem Hintergrund der damaligen Zeit gesehen werden müssen, die aber heute noch Aktualität und Relevanz haben. Stark ausgeprägt sind dabei sowohl die Aussagen zum besonderen Schutz von Familie und Kindern wie auch soziale Grundrechte, die teilweise sehr detaillierte sozialpolitische Aussagen treffen. Sichtbar wird aber auch eine starke Rolle von Religion und Kirchen. Und nicht zuletzt ist die Demokratie im Saarland – auch dies hat die zahlreichen Änderungen der vergangenen Jahrzehnte überdauert – mit einer starken Rolle des Landtags sehr repräsentativ ausgeprägt.
In der jüngsten Zeit flammt immer mal wieder eine „Werte-Debatte" auf. Was sagt es, wenn in diesen Zusammenhängen „Christliche Werte" oder die „Verteidigung des Abendlandes" zu Kampfbegriffen werden? Anders gefragt: Stehen wir noch auf dem Boden unserer Verfassung und der sie begründenden Wertvorstellungen oder verschwimmt das zunehmend?
Gerade das Saarland hat in den vergangenen Jahren gezeigt, dass Weltoffenheit und gelebte Nächstenliebe sehr wohl damit vereinbar sind, dass wir unsere Traditionen und Werte vertreten und verteidigen können. Für mich sind das keine Gegensätze. Im Gegenteil: Ich halte es nicht für einen Zufall, dass es gerade das Land war, in dessen Parlament als einziges in Deutschland ein christliches Kreuz im Plenarsaal hängt, das auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise gerade auch mit viel ehrenamtlicher Tatkraft den mehrheitlich muslimischen Flüchtlingen geholfen hat. Richtig ist aber, dass die auf der Grundlage unserer christlich-jüdischen Traditionen gewachsenen Wertentscheidungen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung auch in einer bunter werdenden Gesellschaft nicht zur Disposition stehen dürfen. Sie stellen vielmehr die Leitkultur der Integration in unsere Gesellschaft dar.
Es gab im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Änderungen an der Landesverfassung, zuletzt, was Schulen und die Rechte von Lesben und Schwulen („Sexuelle Identität") betrifft. Die Verfassung ist also nicht unbedingt „in Stein gemeißelt". Unterliegt sie damit auch gewissen Moden?
Natürlich unterliegen Verfassungen auch dem Wandel gesellschaftlicher Vorstellungen und der ihnen zugrundeliegenden Werte. Wichtig für eine Verfassung, die das Fundament eines Staates darstellt, ist jedoch, dass sie ein höheres Maß an Stabilität und Kontinuität aufweisen muss als ein einfaches Gesetz. Dazu dienen völlig zu Recht die besonderen Mehrheitserfordernisse einer Verfassungsänderung, die der Landtag nur mit zwei Dritteln seiner Mitglieder vornehmen kann. Die Geschichte unserer Verfassung zeigt, dass Stabilität und Fähigkeit zur Veränderung miteinander vereinbar sind. Das ist Voraussetzung für ihre Beständigkeit und ihre Akzeptanz.
Müssen eigentlich Einzelfragen wie beispielsweise Schulformen verfassungsrechtlich geregelt sein, oder wäre es nicht sinnvoller, sich in einer Verfassung auf die wesentlichen Kernfragen zu konzentrieren?
Das ist in der Tat eine Frage, über die man heftig diskutieren kann. Das Grundgesetz zeigt, wie erfolgreich eine Verfassung sein kann, die gerade im Hinblick auf die Grundrechte mit bewundernswert wenigen Worten auskommt. Der Verfassungsgeber ist mit Sicherheit gut beraten, das grundlegende Dokument eines Staates nicht mit Details zu überladen. Die saarländische Besonderheit, das Schulsystem in der Verfassung zu verankern, hat jedoch im Hinblick auf die zentrale Bedeutung der Schulpolitik im Land durchaus Berechtigung. Damit wurde ein jahrzehntelanger, vielfach als negativ empfundener Streit um Schulstrukturen beendet. Denn so kann nicht jede neue Mehrheit im Landtag wieder die gesamte Schullandschaft auf den Kopf stellen. Das macht – wie ich finde – für die gedeihliche Entwicklung unserer Schulen, die auf eine gewisse Verlässlichkeit und zeitliche Beständigkeit angewiesen sind, Sinn und hat ja auch Befriedung der ansonsten immer wieder hochideologisch geführten Schulstrukturdebatten beigetragen.
Verfassungsgerichte werden immer wieder auch zu Stellungnahmen in Fragen angerufen, die eigentlich politisch zu entscheiden wären. Das gilt zumindest in einigen Fällen auch für den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes (etwa beim Nichtraucherschutzgesetz). Kritiker mutmaßen, da würden politische Entscheidungen auf die Obersten Richter abgewälzt. Ist dem so?
In einem Rechtsstaat, in dem grundsätzlich jede gesetzgeberische Entscheidung vor dem Verfassungsgericht Bestand haben muss, ist es nicht zu vermeiden, dass vor den Verfassungsgerichten über politische Fragen verhandelt wird. Die volle verfassungsrechtliche Kontrolle des Gesetzgebers durch die Gerichte ist vielmehr eine wichtige Errungenschaft des demokratischen Verfassungsstaats. Bisweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Gesetzgeber sich auf diese nachträgliche Kontrolle zu sehr verlässt. Wie weitgehend ein Verfassungsgericht sich andererseits in Detailfragen äußert und damit in die Rolle des Gesetzgebers schlüpft, unterliegt der richterlichen Unabhängigkeit. Im Einzelfall kann man auch da anderer Meinung sein. Im Saarland habe ich jedenfalls den Eindruck, dass Parlament und Verfassungsgerichtshof ihre jeweils eigene Aufgabe in der Weise wahrnehmen, wie sich die Verfassung dies vorstellt.
Der 17. Dezember soll künftig als „Gedenktag" gelten. Ist das mehr als ein symbolischer Akt und was kann das bewirken?
Unser Ziel ist es nicht nur, die Bedeutung der Landesverfassung für das Saarland stärker in das Bewusstsein der Menschen zu bringen. Wir wollen den Verfassungstag vor allem dazu nutzen, für die Werte und Ziele unserer Verfassung zu werben. Dazu dient nicht nur der Tag selbst. Darüber wollen wir als Justiz auch in den kommenden Monaten stärker an die Öffentlichkeit, beispielsweise in Schulen, gehen. Gerade in einer Zeit, in der die Feinde unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung – ob von außen oder innen, ob von Links, Rechts oder religiös motiviert – immer aggressiver werden, muss eine wehrhafte Demokratie auch gerade die öffentliche Diskussion über die Grundlagen unseres Gemeinwesens suchen. Dazu ist der 17. Dezember in Zukunft eine weitere gute Gelegenheit!