In der kanadischen Hudson Bay versammeln sich jeden Sommer Tausende Beluga-Wale. An der Seite eines erfahrenen Forschers kann man hier im Motorboot und Kajak auf Safari gehen. Und mit etwas Glück lässt sich ein Wal sogar streicheln.
Nebel wabert. Weiße Schwaden ziehen wie der Qualm eines Feuers über die spiegelglatte Meeresfläche. Rote und gelbe Kajaks leuchten hin und wieder aus dem Nichts. Dann ertönt plötzlich ein lautes Schnaufen, weit hallt der Ton übers Wasser. Alle halten den Atem an, keiner paddelt, keiner spricht. Dann ertönt ein Prusten von rechts, näher als das erste. Die Köpfe der Paddler zucken in die Richtung – doch es ist nichts zu sehen.
„Hilfe, einer klopft von unten ans Kajak", ruft eine Frauenstimme plötzlich, und aus dem Dunst kommt ein spitzer Schrei, gefolgt vom Ausruf „Sie sind hinter mir!" Belugas lieben das Blubbern der Bugwelle, hatte der Guide vorher erklärt. „Ihr müsst rückwärts paddeln, dann seht ihr sie Auge in Auge", rät er jetzt und zeigt, wie ein Tier mit dem sprudelnden Wasser unter seinem Paddel spielt.
Ein ganzer Schwarm tummelt sich zwischen den Kajaks. Rhythmisch tauchen die weißen Rücken auf und ab, unter Wasser leuchten sie smaragdgrün. Auf die Paddler wirken die bis zu sechs Meter langen Tiere gigantisch, dabei zählen sie nur zu den Kleinwalen. Eine Frau lässt ihre Hand ins Meer hängen, bis sich ein Kopf darunterschiebt, um sich streicheln zu lassen, eine andere Paddlerin seufzt nur: „Er hat mir tief in die Augen geschaut."
Churchill gilt als Hauptstadt des Beluga Watching – nirgendwo sonst in der Welt kann man die Tiere so einfach beobachten. Laut offiziellen Schätzungen sollen bis zu 57.000 Weiße Wale den Sommer in der Hudson Bay verbringen, rund 3.000 versammeln sich im Mündungsdelta des Churchill, Nelson und Seal River.
Besucher gehen in Jetboats und Schlauchbooten, mit Kajaks und beim Schnorcheln auf Walsafari. Doch auch für Meeresbiologen ist der Ort ein idealer Stützpunkt. Bis weit in die 70er-Jahre wusste man so gut wie nichts über die Weißwale, das kanadische Fischereiministerium rief daher eine Forschungsgruppe ins Leben.
Zu diesem Team gehörte auch Pierre Richard. Der studierte Biologe blickt auf 30 Jahre Arbeit mit Beluga- und Narwalen zurück. Einmal im Jahr teilt der gebürtige Quebecer sein Wissen im Rahmen von „Learning Vacations": Bildungsreisen für Beluga-Fans mit Exkursionen am Tag und Vorlesungen am Abend.
Während des Paddelns erklärt Pierre, wie hervorragend die Belugas an das Leben in der Arktis angepasst sind. Er deutet auf die vorgewölbte „Melone" am Kopf der Tiere, wo das Orientierungssystem sitzt: Mittels Echo-Ortung spüren sie Fischschwärme auf. Unter ihrer rund zehn Zentimeter dicken Epidermis liegt eine breite isolierende Fettschicht, der „Blubber".
Im Bus nach der Tour plappern alle aufgeregt durcheinander. Auch dem Profi steht das Glück ins Gesicht geschrieben: „Für diese Art der Begegnung war während der Forschung keine Zeit", sagt Pierre während der Fahrt zurück ins Churchill Northern Studies Center, einem modernen Funktionsbau in der Tundra, der als Bildungs- und Forschungsstätte zugleich dient.
Die Ureinwohner dürfen Wale jagen
Hier herrscht kein Luxus, sondern Jugendherbergsatmosphäre: Alle schlafen in Mehrbettzimmern, und in der Kantine muss jeder mit anpacken. Doch der legere Eindruck täuscht: Wissenschaftler aus aller Welt forschen hier über Meerestiere, Klimawandel und die arktische Flora. „Als wir unsere Arbeit aufnahmen, dachte man, die Weißwale lebten ausschließlich in seichten Gewässern", erklärt Pierre am Abend. Doch dann gelang es, einzelne Exemplare mit Sendern zu versehen, die jeden Tauchgang aufzeichneten. „Inzwischen wissen wir, dass sie rund acht Monate des Jahres in tiefem Wasser verbringen – einmal haben wir sogar 1.100 Meter gemessen."
Den größten Teil seiner Forschung machten Luftuntersuchungen aus. Die Wissenschaftler teilten Gebiete in Abschnitte ein, die sie in Propellermaschinen abflogen. Mehrere Beobachter zählten die Wale, bei besonders hoher Dichte wurden Luftaufnahmen angefertigt. „Auf manchen Fotos waren bis zu 200 Belugas zu sehen", sagt Pierre.
Am nächsten Tag geht es im Motorboot auf See. Wo gestern kein Windhauch das Wasser kräuselte, weht heute eine scharfe Brise. Während die Passagiere am Bug Ausschau halten, behält Remi Foubert-Allen auf seiner Kapitänskanzel den Überblick. „Fünf Uhr", brüllt er plötzlich, und die Passagiere rennen zum Heck, wo sich drei Belugas vom Blubberwasser den Kopf massieren lassen. Pierre Richard deutet auf die Kratzer an ihren Körpern: „Das sind Bisswunden und Verletzungen vom Packeis", sagt der Forscher. „Manchmal sieht man auch Narben von Gewehrschüssen."
Für die Ureinwohner rund um den Polarkreis ist die Jagd seit Jahrtausenden Teil ihrer Kultur. Die erlegten Wale wurden komplett verwertet: Aus Därmen entstanden Behälter, Sehnen wurden zum Nähen genutzt, das Öl in Lampen. Am begehrtesten aber ist der Blubber, die Fettschicht voller Vitamin C. Von den Inuit „Muktuk" genannt (Maktak gesprochen), gilt sie als leckerste aller Delikatessen.
1990 bestätigte der Oberste Gerichtshof Kanadas das Recht der Ureinwohner, für ihre Nahrung sowie soziale und zeremonielle Zwecke zu fischen. „Dieser Walfang für den Eigenbedarf bildete nie eine Gefahr für die Bestände – der kommerzielle Walfang hingegen hat einige Populationen nahezu ausgelöscht", erklärt Pierre. „Das stellt uns jetzt vor Probleme: Wo Beluga-Bestände sich erholen müssen, kann auch die Jagd der Inuit eine Bedrohung darstellen."
Die Forscher haben daher von Anfang an den Kontakt zu den Ureinwohnern gesucht. „Am Anfang waren sie sehr misstrauisch", erinnert sich der Forscher. „Sie leben isoliert und haben ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl – vor allem, wenn Leute ihnen erzählen, was sie tun sollen." Doch je enger der Kontakt wurde, desto ergiebiger entwickelte sich die Zusammenarbeit – für beide Seiten: „Sie akzeptieren Dich erst, wenn Du mit ihnen ebenso viele Informationen teilst, wie du von ihnen erwartest."
Ein riesiges Repertoire an Tönen
Die letzte Exkursion führt mit Schlauchbooten in die Bucht. Schon nach wenigen Minuten sind beide Zodiacs von Walen umgeben, vier Tiere hängen wie eine Eskorte hinter dem Motor. Remi lässt ein Unterwasser-Mikrofon unter das Boot gleiten: Mit dem „Hydrofon" sollen die Belugas belauscht werden.
Gleich nach dem Einschalten erschallt ein Kreischen, Pfeifen und Grunzen, ein Zwitschern und Tirilieren wie in einem tropischen Urwald, dazwischen Geräusche wie von einer knarrenden Tür. Belugas sind die Wale mit dem weitaus größten Repertoire an Tönen, sie werden deshalb auch „Kanarienvögel der Meere" genannt.
„Viele glauben, dass diese Art sehr schlau ist", sagt Richard. „Aber man muss nicht sehr intelligent sein, um komplexe Klänge zu erzeugen." Heute jedenfalls wollen die Belugas nur spielen: Hin und wieder klopft einer ans Mikrophon, und einmal hüpft das Boot plötzlich einen halben Meter in die Höhe, weil ein übermütiges Männchen Rodeo spielt – Schrecksekunden für die Passagiere.