Im Lager der deutschen Skispringer blühen nach einem Bilderbuch-Start in die Olympia-Saison Träume vom ersten Triumph bei der Vierschanzentournee seit mehr als 15 Jahren. In diesem Jahr dank gleich zwei Siegspringern womöglich berechtigter denn je.
Träume gehören zum Sport. Die Vorstellung vom ganz großen Wurf, die Hoffnung auf bedeutende Titel und Medaillen sind für Athleten der stärkste Antrieb zu immer neuen Höchstleistungen und Bestwerten. Träume können im Sport allerdings auch zu einer Bürde, zu hinkelsteinschweren Rucksäcken mutieren, nämlich immer dann, wenn das angestrebte Ziel und der angestrebte Erfolg schier unerreichbar zu bleiben scheinen.
Zu letzterer Art von Sportler-Träumen hat sich für die deutschen Skispringer die Vierschanzentournee entwickelt. 16 Jahre schon liegt der bislang letzte Gesamtsieg für die „Adler" bei den Wettkämpfen in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen durch Sven Hannawald zurück, und seitdem haben sich mittlerweile bereits mehrere Nachfolge-Generationen vergeblich an einer Wiederholung dieses legendären Coups abgearbeitet.
„Es müsste mit dem Teufel zugehen"
Der Erfüllung des „ewigen Traums" am nächsten kam vor gerade einmal erst zwei Jahren noch der frühere Weltmeister Severin Freund als Gesamtzweiter. Zuvor hatte einzig noch Michael Neumayer bei der Tournee 2007/08 als Dritter der Gesamtwertung auf das Podest der Gesamtbesten fliegen können. Wehmütig wünschen sich Fans die Zeiten von Hannawald und seines kongenialen Kollegen Martin Schmitt um die Jahrtausendwende oder zu Wiedervereinigungszeiten von Jens Weißflog und Dieter Thoma zurück.
Doch wenn der Schein nicht trügt, könnten die Zeiten der zunehmend verzweifelten Bemühungen um den prestigeträchtigen Erfolg bei der bevorstehenden Auflage zu Ende gehen. Denn für „Vorspringer der Nationen" hat der Olympia-Winter mit einem wahrhaftigen Bilderbuchstart begonnen: In den Wochen vor der Generalprobe für die Tournee beim Weltcup am dritten Adventwochenende im schweizerischen Engelberg fuhren die Mannen von Bundestrainer Werner Schuster mit der ebenso renommierten wie ambitionierten Konkurrenz buchstäblich Schlitten: Sieg Richard Freitag im russischen Nischni Tagil, tags darauf an gleicher Stelle Doppelsieg durch Andreas Wellinger und Freitag und nur eine Woche später beim Heimspiel in Titisee-Neustadt gleich der nächste Doppelschlag, diesmal durch Freitag vor Wellinger.
Wenig überraschend glaubt denn auch niemand Geringeres als Hannawald an seine Ablösung als bis heute letzter von 16 deutschen Gesamtsiegern. „Ich denke nicht, dass ihnen bis zur Tournee noch die Puste ausgehen wird. Es ist auch an der Zeit, dass endlich einmal wieder ein Deutscher die Tournee gewinnt. Es müsste auch mit dem Teufel zugehen, wenn es in diesem Jahr nicht klappt."
Hannawald steht mit seiner Erwartungshaltung bei Weitem nicht allein. Den naheliegenden Druck für seine Aktiven nimmt Schuster allerdings nur allzu gern in Kauf. „Druck wäre sowieso da gewesen. Aus dieser Position aber ist das deutlich angenehmer", meint der Österreicher.
Allen Unwägbarkeiten zum Trotz macht Schuster für die Tournee auch aus seinen eigenen Hoffnungen keinen Hehl: „Es kann natürlich nicht bis März mit Doppelsiegen weitergehen, und bis zur Tournee vergeht ja auch noch etwas Zeit. Aber was bisher passiert ist, ist schon toll. Es wäre natürlich schön, wenn es so weitergehen würde. Es ist cool, voll in der obersten Liga mitzuspielen", meinte der Erfolgscoach nach dem neuerlichen Coup von Titisee-Neustadt. „Zweifellos haben wir uns eine Ausgangsposition geschaffen, die wir ausnutzen wollen."
Schusters unverborgenes Selbstbewusstsein ist beileibe keine Selbstverständlichkeit. Nachvollziehbar wird seine Zuversicht jedoch anhand der historischen Dimensionen von Freitags und Wellingers Erfolgssprüngen: Einen Doppelsieg für die deutschen „Adler" landeten zuletzt Stephan Hocke und Hannawald vor ebenfalls 16 Jahren in Engelberg, zweimal an einem Wochenende nacheinander wurde die deutsche Hymne – noch vor der Hochzeit von Hannawald und Schmitt – 1994 in Thunder Bay/Kanada für Gerd Siegmund und Weißflog gespielt, und zwei Doppelsiege in Folge gelangen deutschen Skispringern vorher sogar vor 27 Jahren.
Der Lauf für Weltcup-Spitzenreiter Freitag, seinen Verfolger Wellinger und mit Abstrichen dahinter auch die ständigen Top-10-Kandidaten Markus Eisenbichler und Karl Geiger kommt angesichts des Ausfalls von Freund wegen eines Kreuzbandrisses aus der Vorbereitung im Sommertraining eher unerwartet. Freitags sportliche Wiederauferstehung nach einem jahrelangen Tief liefert zwar einen Ansatz für eine Erklärung, ist aber insgesamt betrachtet zu kurz gesprungen.
Das tatsächliche Erfolgsgeheimnis ist die Entwicklung von Schusters Springern zu einem wirklichen Team. Eine Mannschaft, in der sich nicht zuletzt durch Freitags Umzug zur Trainingsgruppe von Wellinger und Eisenbichler nach Oberstdorf alle gegenseitig antreiben.
„Diese Mannschaft ist hammergeil"
Die Übernahme von Verantwortung anstelle von Freund hat sich zudem für Freitag wie Wellinger, der in Nischni Tagil für seinen zweiten Sprung sogar erstmals in seiner Laufbahn von einem Wertungsrichter sogar die Traumnote 20,0 erhielt, als leistungsfördernde Herausforderung und anders als befürchtet nicht als Last erwiesen. „Diese Mannschaft ist hammergeil", sagt Wellinger über den Zusammenhalt im deutschen Team. „Richard spornt mich mit seinen Leistungen immer noch einmal zusätzlich an."
Auch Hannawald sieht in der neuen Konstellation von Schusters Mannschaft den wichtigsten Grund für den buchstäblichen Höhenflug: „Im deutschen Team wird zwar sehr viel im Materialbereich und an der Fitness gearbeitet. Aber der Hauptfaktor ist", meinte die Springer-Ikone als TV-Experte, „dass man drei Rennpferde in einer Trainingsgruppe hat, die sich gegenseitig zu immer neuen Höchstleistungen pushen. In dieser Mannschaft ist teamintern so viel Dampf drin, dass bei der Tournee auf jeden Fall einer vorne dabei sein wird."
Von der inspirierenden Konkurrenz im deutschen Lager fühlen sich sogar ausländische Rivalen angestachelt. „Die Deutschen", meint etwa der österreichische Doppel-Weltmeister Stefan Kraft zur Dominanz von Freitag, Wellinger und Co., „sind momentan saustark und nur sehr schwer zu schlagen. Sie holen sogar auch aus mir das Beste heraus." Anerkennung zollt dem deutschen Spitzenduo auch der norwegische Topspringer Daniel Andre Tande: „Die beiden springen einfach sehr gut. Sie machen es dem Rest von uns sehr schwer."
Dabei hat Schuster insbesondere Tande und Kraft als stärkste Rivalen seiner Siegkandidaten für die Tournee auf der Rechnung. „Kraft ist nach wie vor brandgefährlich, die polnische Mannschaft ist nicht nur wegen ihres Tournee-Siegers Kamil Stoch unglaublich stark, und speziell Tande kommt mir sehr gut vor", blickt der Bundestrainer auf eine spannend wie lange nicht mehr erwartete Tournee voraus.
„Andi kann gut mit Druck umgehen"
Trotz aller oder auch gerade wegen der so prominenten Konkurrenz ist für den viermaligen Weltmeister Schmitt in diesem Winter Wellinger der erste Anwärter auf den Tourneesieg: „Der Andi", begründet der Schwarzwälder seine Meinung über den zweifachen WM-Zweiten und Mannschafts-Olympiasieger von 2014, „kann gut mit Druck umgehen. Ich glaube, dass er das sogar braucht."
Hannawald sieht den 22-Jährigen ebenfalls in der Pole Position: „Er hat schon in der vorigen Saison nach Severins erstem Kreuzbandriss hohe Erwartungen erfüllen müssen und ist daran gewachsen. Er hat sich zwar im Sommer etwas schwergetan, hat aber gleichzeitig viel für seine Fitness getan. Das zahlt sich nun für ihn aus."
Lassen Andreas Wellinger oder Richard Freitag oder auch „Geheimtipp" Markus Eisenbichler den Traum aller deutschen Skispringer schlechthin Wirklichkeit werden, könnten für Schusters Mannschaft damit außerdem wahrhaftige Festwochen anbrechen.
Mitte Januar schon steht bei der Skiflug-Weltmeisterschaft in Oberstdorf der nächste Höhepunkt auf dem Programm, und für die Olympischen Winterspiele im Februar in Pyeongchang gelten Wellinger und seine Kameraden mittlerweile ohnehin schon zum engsten Kreis der Anwärter zumindest auf Mannschafts-Gold.