Sie werden oft als Mimosen oder Weicheier betitelt, sie sind scheinbar schneller gestresst und weniger belastbar. Sogenannte hochsensible Menschen nehmen die Reize ihrer Umwelt intensiver wahr. Fast ungefiltert. Doch das muss kein Nachteil sein.
Das stimmt bloß nicht mit mir? Da, wo andere stundenlang entspannt in der vollen City shoppen, da bin ich schon nach kurzer Zeit überfordert, gestresst und möchte nur noch weg. Ich nehme alles auf einmal wahr, das Flackern der Lampen, die hetzenden Menschen, die lauten Verkehrsgeräusche, Parfüm, Schweiß und das Gewusel. Ich bin irgendwie anders. Da, wo andere mal eben einen Bekannten zum Kaffeetrinken treffen, spüre ich, wie sich mein Gesprächspartner fühlt. Es ist, als könnte ich seine innere Verfassung in mir wahrnehmen. Ich kann mich sehr gut in ihn hineinversetzen, aber auch schlecht davon abgrenzen. Hilfe! Ich brauche Ruhe und Zeit, um alle Eindrücke zu verarbeiten und für mich zu ordnen.
Willkommen in der noch wenig erforschten Welt von sogenannten Hochsensiblen Personen (HSP). So in etwa erleben solche Menschen alltägliche Situationen, die jeder von uns kennt. Der Grund für ihre latente Überforderung: Hochsensible besitzen, so eine mögliche psychologische Erklärung, ein neuronales System, das dafür ausgestattet ist, besonders viele Signale aufzunehmen, sie intensiv zu verarbeiten und vielseitig zu verwerten. Anders gesagt: Ihre Kanäle sind immer offen. „Sie können sich die Veranlagung zur Hochsensibilität in etwa wie einen Schwamm vorstellen: Sobald der Schwamm mit Wasser in Berührung kommt, saugt er es auf", erklärt die selbst betroffene Autorin Cordula Roemer, die gerade ein Buch über Hochsensible veröffentlicht hat.
Im Alltag werden HSP oft als Mimosen abgetan, als dünnhäutig, übersensibel, zu emotional und leicht reizbar. Häufig hören sie dann: „Stell Dich nicht so an." Denn viele Menschen kennen den Begriff der hochsensiblen Persönlichkeit (noch) gar nicht. Hochsensible Menschen sind dabei weder gestört noch krank, sondern eben nur anders veranlagt, schreibt Autorin Roemer. Die Wissenschaft hat diese Veranlagung lange nicht als eigenes Forschungsthema erkannt. Das änderte sich, als die US-amerikanische Psychologin Elaine N. Aron 1997 ein Buch mit dem Titel: „Die hochsensible Person – Wie soll man gedeihen, wenn die Welt einen überwältigt?" veröffentlichte. Damit brachte sie das Thema aus fachlicher Sicht in die Öffentlichkeit. Ein Schlüsselmoment, nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für etliche Menschen, die plötzlich eine Art Aha-Erlebnis hatten und riefen: „Das bin ja ich!" Auch wenn HSP keine anerkannte Diagnose ist, so sorgte allein der neue Begriff dafür, dass ein gewisser Teil der Menschen sich plötzlich „erkannt" fühlte.
20 Prozent der Menschen betroffen
Forscher suchen zunehmend systematisch nach Ursachen für diese Veranlagung. Hat es etwas mit Kindheitserfahrungen zu tun? Haben HSP mehr Botenstoffe im Gehirn? Wie lässt sich die starke Empathie bei den HSP erklären? Der renommierte amerikanische Psychologe Jerome Kagan, der viele Langzeitstudien über die Temperament-Bildung durchführte, geht davon aus, dass etwa 20 Prozent der Menschen – genauso viele Männer wie Frauen – als hochsensibel eingestuft werden können. Auch in Deutschland wird geforscht. So beschäftigt sich die Psychologin Dr. Sandra Konrad an der Helmut Schmidt Universität in Hamburg intensiv mit HSP. Gut 20 Studien führt sie zurzeit zum Thema durch. „Leider existiert bislang noch keine anerkannte neurophysiologische Theorie, welche die Ursache der Hochsensibilität beschreibt", erklärt sie. Zwillingsforschungen legen wohl nahe, dass eine genetisch bedingte spezielle Verfassung der reizverarbeitenden neuronalen Systeme vorliegt. Außerdem könnten – vereinfacht gesagt – Ausprägungen im Gehirn dafür sorgen, dass bestimmte Aktionspotenziale nicht gedämpft werden und gleichzeitig mehr Reize als bedeutsam eingestuft werden, als bei anderen. Aber all das sind nur Vermutungen.
Die Wissenschaft ist erst am Anfang. Und: Es gibt Kritik an dem scheinbar neu entdeckten Merkmal der Hochsensibilität. Manche Psychologen sehen in dem Konstrukt eher typische Ausprägungen einer neurotischen Persönlichkeit. Die Tendenz, sehr sensitiv und empfindlich zu reagieren, werde in der Persönlichkeitsforschung üblicherweise Neurotizismus genannt, argumentiert der Persönlichkeitsforscher Jens Asendorpf in einem Artikel von „Spektrum der Wissenschaft". Also alles kalter Kaffee? Sind alle Hochsensiblen einfach nur Neurotiker? Die Fachwelt ist bisher uneins.
Für die Gruppe der Betroffenen sind andere Fragen wichtig: Sie erleben sich ja oft als etwas fremd in der Welt. Auf den mittlerweile zahlreichen Beratungsseiten im Netz, etwa auf www.zartbesaitet.net, tauschen sie sich aus. Viele Selbstberichte beginnen mit Sätzen wie: „Schon als Kind habe ich mich anders gefühlt." Die Feinfühligen beschreiben ausführlich ihren beschwerlichen Weg durch eine anstrengende Welt, von der sie sich öfter als andere zurückzuziehen möchten. Weil sie mit den Reizen der Umgebung überfordert sind. Weil nichts an ihnen abprallt. Wie also damit umgehen? Wie ist es möglich, zufrieden mit dieser Veranlagung zu leben und zu arbeiten?
Das kann gelingen, meint Cordula Roemer. Ihre These lautet „Hochsensibilität ist Kompetenz". Als Betroffene hat sie sich eingehend mit dem Temperament der Hochsensiblen befasst. Ihre eigene intensive Wahrnehmung habe sie selbst lange als Manko empfunden. „Die vielen Reize, Eindrücke und Menschen, all das war ein energetischer Aderlass", erzählt sie in ihrem Buch. 2009 gründete sie eine Selbsthilfegruppe für HSP in Berlin und lernte dabei viel über die inneren Prozesse der Feinfühligen. Sie sah das Leid, aber auch das Potenzial dieser Menschen. Sie sah vor allem, dass man die hohe Sensibilität für sich als Gabe begreifen kann, statt immer von der drohenden Überforderung auszugehen. Als Resultat ihrer Beobachtungen hat sie den Ratgeber: „Hurra, ich bin hochsensibel! Und nun?" geschrieben. Ihr Ratschlag: Es bringt nichts, sich eine „Erlebnisdiät" zu verordnen. So verhindere man vielleicht eine Reizüberflutung, aber man entziehe sich den vielen Chancen, die die aktive Teilnahme an der Welt bietet.
Viel sinnvoller sei es, die eigene Wahrnehmung zu verändern und die eigenen Grenzen zu kennen. Das Dilemma vieler Hochsensibler sei ja, dass sie sich nicht von den Außenreizen abgrenzen und sich deshalb selbst nicht spüren könnten. Denn viele Hochsensible übernehmen zu oft Stimmungen, Gedanken und Gefühle der anderen. Das habe zur Folge, dass die Feinfühligen zwar als besonders emphatisch wahrgenommen werden, jedoch dafür einen hohen Preis zahlen. Denn dieses starke Mitfühlen und Wahrnehmen verschiedenster Reize kostet Energie, die ihnen dann im komplexen Alltag fehlt. Ihre Akkus sind zu schnell leer. Erstes Ziel sei es, so meint die Autorin, die Wahrnehmung zu schulen und den Fokus auch nach innen zu verlagern. Fragen wie: Was fühle ich wirklich? Wo ist hier gerade meine Grenze? Brauche ich eine kurze Pause? Mit solchen Übungen gelinge eine bessere Selbstwahrnehmung, die einen gelassenen Umgang mit der Welt ermögliche.
Unterschiedliche Ausprägungen
Je gelassener Hochsensible sind, je verstandener in ihren Bedürfnissen, umso größer ist ihr Potenzial, meint die Autorin Cordula Roemer. In einer wertschätzenden Umgebung können Hochsensible ihre intensive Wahrnehmung mehr als Gabe, denn als Last erleben. Ihre Fähigkeit, Informationen in Situationen fein aufzunehmen, zwischen den Zeilen zu lesen und komplex zu bewerten, lässt sich nämlich auch als Geschenk für die Allgemeinheit betrachten. „Hochsensible sind die Seismografen der Gesellschaft", meint Autorin. Sie warnen früh, wenn etwas nicht stimmt. Davon ist auch Rolf Sellin überzeugt, Autor des Buches „Wenn die Haut zu dünn ist". „Die meisten Hochsensiblen sind vom tiefen Wunsch beseelt, die Welt menschlicher zu gestalten", schreibt der Autor. Das bedeutet praktisch: Hochsensible erkennen früh, wenn einer zu kurz kommt, wenn etwas fehlt, wenn etwas in Schieflage gerät. Statt ihnen also vorzuhalten, immer die großen Bedenken zu haben, könnte die Gesellschaft auf dieses spezielle Frühwarnsystem hören und die Situation neu bewerten. Auch in der Arbeitswelt können Hochsensible eine Bereicherung sein: Sie gelten wegen ihren vielen „Antennen" als ausgesuchte Teamplayer und harmoniesuchend. Aber viele sind dabei auch besonders moralisch, gerechtigkeitsliebend und versuchen, alles genau zu erfassen, bis sie eine Entscheidung treffen. Nicht immer, so geben Kritiker zu bedenken, passt diese Herangehensweise in eine moderne, immer forderndere Leistungsgesellschaft.
Eine weitere Gabe der Hochsensiblen ergibt sich aus ihrer ständigen Auseinandersetzung mit der Welt. Diese führt bei Hochsensiblen fast automatisch zu einer intensiven Gefühls- und Gedankenwelt, so schreiben beide Buchautoren. Diesen inneren Reichtum nutzten viele Feinfühlige als Potenzial, indem sie zum Beispiel kreativ arbeiten. Kreativität, die in Büchern, Bildern, Musik und vielem mehr Ausdruck finden kann. Auch davon profitiert die Gesellschaft.
Bei vielen Hochsensiblen ist außerdem ein verstärkter Wunsch ausgeprägt, die großen Zusammenhänge zu verstehen. Sie sind interessiert an Ursache und Wirkung von Prozessen. Sie suchen oft nach Erklärungen für das große Ganze. Deshalb gibt es nicht wenige, die an spirituellen Themen interessiert sind und sich rege darüber austauschen möchten. Mit diesen Suchenden zu sprechen, kann für viele eine Bereicherung sein.
Hochsensibel zu sein, kann sehr unterschiedliche Ausprägungen haben. Es gibt Emphatische, Denker, Introvertierte, Extrovertierte, Vorsichtige und auch Risikofreudige. Die einen mögen laute Musik, die anderen reagieren schon auf kleinste Geräusche. Die einen denken analytisch, die anderen sind eher emotional. Sie alle aber teilen wohl die Veranlagung, mehr Reize aufzunehmen als andere. Und sie sind ständig dabei, sich und den Reizfluss zu reflektieren. Ob sie nun unter ihrer hohen Feinfühligkeit leiden oder für sich konstruktiv nutzen können – das hängt viel von ihnen selbst ab und davon, wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht. Genug Potenzial haben sie jedenfalls.