Pater Anselm Grün ist Benediktiner-Mönch, geistlicher Begleiter und Bestsellerautor. Ein Gespräch über das gelingende Leben, das Gespür für gute Geschäfte und die Fehler der Kirche.
Herr Grün, Sie sind bekannter Bestsellerautor, halten Vorträge und tingeln durch die Medienlandschaft. Damit begeistern Sie nicht nur viele Menschen, sondern tragen finanziell entscheidend zum Erhalt Ihres Klosters bei. Hätten Sie sich Ihr Leben einmal so vorgestellt?
Als ich ins Kloster eingetreten bin, war ich eher schüchtern und hätte nicht gedacht, dass ich einmal so einen Erfolg haben werde. Aber ich habe dann einfach das getan, wozu ich Lust hatte, und die Leute haben sich angesprochen gefühlt. Natürlich habe ich auch etwas gewagt. Als ich Anfragen bekam, habe ich das ausprobiert und es wurde immer mehr.
Was hat Ihnen geholfen, diese Schüchternheit zu überwinden?
Das Gespräch mit meinen Mitbrüdern hat mir geholfen, und ich war öfter bei Graf Dürckheim, einem Therapeuten der die Jung‘sche Psychologie (Anm. d. Red.: Carl Gustav Jung, Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie) mit Zen-Meditation verbunden hat. Der hat mir geholfen, zu erkennen, dass es nicht um äußeres Selbstbewusstsein, sondern um einen inneren Einklang mit mir selber geht. Als ich dann mehr und mehr mit mir in Berührung kam, war es nicht mehr so wichtig, wie ich nach außen auftrete.
Ihr aktuelles Buch heißt „Versäume nicht dein Leben". Haben Sie das Gefühl, dass viele Menschen ihr Leben nicht richtig leben?
Das Buch habe ich geschrieben, weil ich im Gespräch mit jungen Menschen immer wieder das Gefühl hatte, dass sie Angst haben, das Leben zu wagen, und lieber Zuschauer bleiben. Sie haben Angst, sich festzulegen oder nicht zu genügen. Ältere Menschen erzählen mir manchmal, sie hätten ihr Leben versäumt, nie richtig gelebt, nur das getan, was andere von ihnen wollten. Ich versuche mit ihnen zu sprechen – den Jungen zu erklären, dass sie nicht Perfektionist sein müssen, und den Alten, dass sie ihr Leben würdigen sollen und nicht alles Versäumte nachholen müssen.
Was ist denn ein Leben, das gut gelebt wurde, ein gelingendes Leben?
Ein gelingendes Leben ist eines, in dem ich das Bild lebe, das sich Gott von mir gemacht hat, in dem ich authentisch bin und das Gefühl habe, einen Auftrag in der Welt zu haben. Ich brauche kein großes Werk zu hinterlassen, aber das Gefühl, dass ich eine Lebensspur von Hoffnung, Zuversicht und Liebe eingegraben habe.
Was ist Ihr Rat an die Menschen, damit sie das Leben wagen und es gelingen kann?
Viele wagen es nicht, weil Sie nur das absolut Richtige tun wollen. Ich glaube, das gibt es nicht. Ich muss probieren, und dort wo Lebendigkeit und Freiheit und Liebe ist, ist die richtige Richtung. Viele wollen ungeschoren durchs Leben kommen, aber man muss seine Erfahrungen und seine Fehler machen. Es gibt kein Leben ohne Verletzungen.
Sie haben zahlreiche Bücher veröffentlicht, zu Themen wie Glück, Achtsamkeit, Entscheidungen treffen, Älterwerden, darüber, Menschen zu führen, wie Männer zu sich finden und über die Lust ganz Frau zu sein. Empfinden Sie sich bei all diesen Dingen als kompetenten Ratgeber?
Ich empfinde mich nicht als kompetenten Ratgeber, ich versuche einfach, Dinge anzusprechen, auf Briefe zu antworten und mit den Menschen gemeinsam zu schauen, wie man mit Problemen umgehen kann. Natürlich schreibe ich immer auch für mich selber und aus eigener Erfahrung.
Sie sagen, es sei nicht Ihr Ziel, der kompetente Ratgeber zu sein. Ich hätte Ihre Bücher unter Ratgeberliteratur verortet. Was ist Ihre Definition davon?
Ich möchte die Menschen in Berührung bringen mit der Weisheit ihrer eigenen Seele. Mit meinen Worten möchte ich sie bestärken, dass sie ihrem Gespür trauen.
Und das funktioniert dadurch, dass Sie das Thema als solches ansprechen und nicht dadurch, dass Sie einen guten Rat haben?
Ja. Natürlich spreche ich Wege an, wie man mit Dingen umgehen kann. Aber ich will niemanden belehren und den Menschen sagen, wie sie es machen sollen. Das ist von außen gesteuert, und die Gefahr besteht, dass sie sich von außen definieren und mal dem Guru und mal dem Guru folgen. Sie sollen der eigenen Seele folgen.
Ihre Bücher haben eine Gesamtauflage von 20 Millionen weltweit, in einem anderen Interview haben Sie erzählt, dass Sie immer vier bis sechs Prozent Rendite für Ihr Kloster ausgehandelt haben. Sie sind also auch ein schlauer Geschäftsmann. Haben Sie den Eindruck, dass Sie als Mann der Kirche eine Art Vertrauensvorschuss erhalten, wo andere kritisch beäugt werden?
Ich werde schon auch von manchen kritisch beäugt. Manche sind natürlich auch neidisch auf den Erfolg und werfen mir vor, dass ich das Christliche verwässere. Aber ich traue meinem eigenen Gefühl, bin in Berührung mit den Menschen und versuche, ihnen zu helfen.
Was antworten Sie solchen Neidern, wie gehen Sie damit um?
Ich schaue, wo eine berechtigte Kritik ist. Meine Bücher sind nicht perfekt. Ich kann auch nicht alle Erwartungen erfüllen. Ich habe meinen Stil und meine Weise, und das muss nicht jedem zusagen.
Der Kirche laufen seit Jahren die Mitglieder weg, die Menschen scheinen sich dort nicht mehr verstanden und gut aufgehoben zu fühlen. Was machen Sie besser?
Ich will nicht sagen, dass ich es besser mache. Aber viele fühlen sich in der Kirche nicht aufgehoben, weil sie zu sehr moralisiert und immer nur Forderungen gestellt hat. Dazu kommt, dass sie eine Sprache hat, die an den Menschen vorbeigeht. Ich versuche keine Forderungen zu stellen, sondern die Menschen dort abzuholen, wo sie sind, sie zu verstehen, an der Hand zu nehmen und Wege aufzuzeigen. Für mich ist wichtig, dass ich auf christlichem Boden stehe. Ich möchte diese Weisheit so vermitteln, dass die Menschen sie nicht als verstaubt empfinden.
Über Ihr eigenes Leben haben Sie einmal gesagt: „Es bleibt die Sehnsucht nach einer Frau, ebenso wie die Angst im Kloster emotional zu vertrocknen." Warum haben Sie sich dennoch für diesen Weg entschieden?
Ich hatte nach dem Abitur einen großen Ehrgeiz, etwas für die Kirche zu leisten. Ich kam dann mit meinen Emotionen in Berührung, aber die Vorstellung zu heiraten, hat für mich nicht gestimmt. Ich hatte das Gefühl, ich würde mich da zu sehr einrichten. Das Leben im Kloster hält mich viel lebendiger.
Wie erklären Sie sich das, dass Sie sich im Kloster lebendig fühlen, während Sie sich das in der Ehe nicht vorstellen können?
(zögert) Ich will die Ehe nicht vergleichen oder abwerten, sie ist genauso gut, aber für mich stimmt sie nicht. Immer wenn ich mir das vorgestellt habe, hatte ich Angst zu verbürgerlichen. Aber ich will nicht urteilen, ich kenne auch sehr lebendige Eheleute.
Ich habe Sie richtig verstanden, dass es nur um Sie persönlich geht. Aber was hat das Kloster für Sie, dass dort für Sie Lebendigkeit entsteht?
Das Leben im Kloster ist sehr geregelt: früh aufstehen, immer wieder Chorgebete, sich austauschen mit den Mitbrüdern, arbeiten. Dieses Miteinander von innen und außen, von Einsamkeit und Gemeinschaft, von Stille, Gebet und Arbeit, das hält mich lebendig.
Hatten Sie an der Entscheidung auch einmal Zweifel?
Die ersten Jahre natürlich. Anfang der 70er-Jahre sind viele ausgetreten und ich habe mich gefragt, warum ich bleibe. Aber dann habe ich gespürt, dass es für mich stimmt, zu bleiben.
Sie haben einmal von einer Italienerin erzählt, in die Sie verliebt waren. Wissen Sie, wie es dieser Frau heute geht?
Das war aus der Ferne, ich habe in Rom studiert und sie dort gesehen. Aber das war mehr ein inneres Verliebtsein, ich habe nie Kontakt aufgenommen.
Sie sagen auch, Mangelerfahrungen haben etwas Gutes. Warum?
Ich habe das gesagt im Sinne von „in der Kindheit nicht satt geworden zu sein". Man hat immer noch mehr Bedürfnis nach Geborgenheit, nach Zuwendung, nach Liebe. Ich habe viel bekommen, aber bei einem psychologischen Kurs kam ich mit dem Mangel in Berührung. Irgendwann hatte ich das Gefühl, der Mangel hält mich auch lebendig und hält meine Sehnsucht wach.
Was ist Ihr größtes Mangelempfinden?
(überlegt lange) Ich wurde in einem psychologischen Kurs in meine Kindheit zurückversetzt und war in meinem Kinderbett und habe geschrien, aber niemand hat mich gehört. Das Gefühl kommt manchmal auf, aber heute kaum mehr. Ich werde manchmal eher zu viel gehört.
Aber Sie sagen ja, es hält Sie wach. Ich glaube, die meisten Menschen assoziieren Mangel mit etwas Negativem ...
Jaja, die jammern dann immer. Ich sage, die Sehnsucht jedes Menschen ist, zu lieben und geliebt zu werden. Das ist ein Weg von Erfüllung und Enttäuschung. Manche jammern bloß über Enttäuschung – aber sowohl Erfüllung als auch Enttäuschung wollen uns aufbrechen für eine tiefere Liebe. Die Liebe auf dem Grund meiner Seele ist die göttliche Liebe, die kann mir niemand nehmen. Menschliche Liebe ist immer begrenzt.
Sie sind dieses Jahr 72 geworden, haben Sie noch eine Sehnsucht oder einen Wunsch für die Zukunft?
Der Wunsch ist, lebendig zu bleiben und für andere Menschen ein Segen zu sein. Wir haben ein paar Mitbrüder, die dement geworden sind. Ich habe den Wunsch, bis zuletzt wach zu bleiben.