Bei manchen Menschen sind ungewöhnliche, bizarre Vorstellungen und Handlung zur sexuellen Erregung notwendig. Bis zu welchem Maß ist das noch normal, wann braucht es Behandlung, und wie entstehen solche Neigungen eigentlich? Die Hintergründe der Paraphilie.
Die menschliche Sexualität kennt viele Facetten. Es gibt Menschen, die von Strümpfen, dichtem Gedränge, Fesselspielen oder gar von Tieren erregt werden. Der Klassiker – zumindest innerhalb der Fetische – sind die Füße. Das haben italienische Forscher von der Universität in Bologna 2007 mittels einer Analyse von Internetforen herausgefunden. In der Welt der Fetische scheint nahezu nichts undenkbar – neben Leder und Gummi kann fast alles zum Lustobjekt werden, selbst Luftballons oder Tätigkeiten wie das Rauchen.
Erlernt im Sinne klassischer Konditionierung
Als Paraphilie bezeichnet werden „sexuelle Abweichungen, die am besten als sexueller Drang nach einem unüblichen Sexualobjekt oder nach unüblicher Art sexueller Stimulierung beschrieben werden können“, erklären Dr. Alois Kogler und Eva Kaiser-Kaplaner vom Institut für Psychosomatik und Verhaltenstherapie (IPVT) in Graz. Um das Kriterium einer Paraphilie zu erfüllen, müssen solche unüblichen Inhalte oder Handlungen eine Ausschließlichkeit in der Sexualität erreichen und über mindestens sechs Monate hinweg bestehen, erklären es die beiden Psychologen. Auftreten können sie auf unterschiedlichen Ebenen, sagt Dr. Uwe Zimmermann von der Universitätsklinik Greifswald: „Wir unterscheiden drei Achsen der psychosexuellen Entwicklung: das präferierte Geschlecht (männlich, weiblich, beides), das präferierte Alter des Sexualpartners, das am körperlichen Erscheinungsbild festgemacht wird (kindlich, jugendlich, erwachsen) und die präferierte Art der sexuellen Interaktion. Dazu zählt etwa, ob ich im sexuellen Kontakt mit meinem Partner eher zurückhaltend oder eher forsch bin und wie ich Praktiken im Sexualleben auslebe. Man geht davon aus, dass die Entwicklung dieser Achsen mit dem Abschluss der Pubertät beendet ist. Dabei kann es vorkommen, dass innerhalb dieser Achsen sexuelle Präferenzstörungen, Paraphilien, auftreten.“
Wie lange sind solche Vorlieben noch normal? „Die Paraphilie an sich ist noch keine Erkrankung. Viele Menschen haben diese Gedanken, gehen ihnen aber nicht nach oder lehnen sie ab“, erklärt es Dr. Zimmermann. Dass bestimmte Fantasien oder Gedanken nicht selten sind, legt die sogenannte Berliner Männerstudie nahe. 373 Männer wurden hinsichtlich ihrer sexuellen Erregungsmuster in der Sexualphantasie, bei der Masturbation sowie im tatsächlichen Sozialverhalten befragt. Dazu zählten etwa nicht menschliche Objekte, das Tragen von Frauenkleidung, gedemütigt werden, quälen anderer Personen, genitales Präsentieren gegenüber anderen und kindliche Körper. Das Ergebnis: 58 Prozent der Männer kannten eines dieser Muster aus der Phantasie, 47 Prozent davon nutzten es bei der Masturbation und 44 Prozent lebten es tatsächlich aus. Die Forscher gehen jedoch davon aus, dass die meisten dieser Impulse auf einer „normalen sexuellen Ansprechbarkeit“ fußen.
Wie entstehen solche Neigungen überhaupt? Das Institut für Psychosomatik und Verhaltenstherapie in Graz, hat einen Leitfaden zu Paraphilien veröffentlicht, indem Erklärungsmodelle geschildert werden. Lernpsychologen nehmen an, dass Paraphilien im Sinne der klassischen Konditionierung erlernt werden. Etwa wenn ein junger Mann eine sexuelle Erregung bei einer bestimmten Frau erlebt, die für ihn unerreichbar ist – ein Kleidungsstück von ihr aber schon. Kommt es dann zu einer sexuellen Handlung (zum Beispiel Masturbation) und gleichzeitigen Phantasien um diese Frau, die sexuell erregend sind, wird nach einiger Zeit das Kleidungsstück allein, auch ohne sexuelle Phantasien, zu sexueller Erregung führen. Durch das positive Erlebnis des Orgasmus wird diese Handlung unmittelbar positiv verstärkt und gefestigt, heißt es dort. Das Sexualverhalten kann noch weiter in diese Richtung geformt werden, wenn zusätzlich durch ungeschickte Kontaktaufnahme zu einem Partner sexuelle Kontaktversuche scheitern und damit sozusagen negativ belohnt werden, so die Psychologen.
Ein anderer Ansatz ist das soziale Lernen. So könnten beispielsweise frühere Opfer sexueller Gewalt später selbst zu Tätern werden. In anderen Theorien gehen Forscher davon aus, dass die Entwicklung der Sexualität davon abhängt, wie biologische und psychische Faktoren auf bestimmte kritische Zeitperioden einwirkten. Dabei seien vor allem Erfahrungen, die um das achte Lebensjahr gemacht werden, für die Entwicklung der Geschlechtsidentität, der sexuellen Partnerorientierung und der sexuell-erotischen Vorstellungswelt wichtig. Auch das Prinzip der Selbstetikettierung könne sich auswirken. Wenn der Betroffene merkt, dass er sich sexuell anders als andere seines Alters verhält, erlebt er sich selbst als abweichend, jemand, der sexuell nicht „normal“ reagieren kann. Das könne die Entwicklung von Paraphilien weiter verfestigen. Die Grazer Psychologen gehen davon aus, dass viele Betroffene unter starken Ängsten leiden, bei üblichem sexuellen Kontakt zu versagen, wenn bestimmte sozial unerlaubter Reize nicht vorhanden sind. Dies könne wiederum dazu führen, übliche Sexualkontakte zu meiden und stattdessen in der sexuell devianten Handlung zu bleiben.
Aber muss man solche Neigungen behandeln? Und wenn ja, ab wann? „Eine Behandlungsindikation für Paraphilien besteht, wenn der Patient unter der Paraphilie leidet. Das heißt, wenn er zum Arzt geht und sagt, ich habe diese Fantasie, leide darunter und möchte Hilfe“, so Dr. Uwe Zimmermann. Kommen dabei andere Personen zu Schaden, verhält sich das natürlich anders. Hier spreche man dann von Dissexualität. „Unter Dissexualität verstehen wir Verhaltensweisen, die das Wohl oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer Menschen beeinträchtigen oder schädigen und daher auch strafrechtlich verfolgt werden. Nicht alle Menschen, die eine Paraphilie habe, werden dissexuell und nicht alle Menschen, die dissexuell sind, haben eine Paraphilie. Paraphilien und Dissexualität können unabhängig voneinander bestehen“, erklärt Zimmermann weiter. Dabei unterscheiden Experten zwischen Dunkelfeld und Hellfeld: „Beim Dunkelfeld ist es noch nicht zu einer angezeigten Straftat gekommen, aber die Patienten merken, dass sie einen Drang haben, dem sie nicht nachgeben möchten. Das Hellfeld besteht aus Patienten, die bereits straffällig geworden sind und einen sexuellen Übergriff getätigt haben. Die müssen ebenfalls in Therapie“, erklärt er.
Die Behandlung selbst basiere zumeist auf verhaltenstherapeutischen Maßnahmen: „Dabei versucht man dem Patienten klarzumachen, dass es sich um ein grenzverletztendes Verhalten handelt. Es gibt etwa eine Ampel, die man erarbeiten kann und bei der der Patient weiß, sobald er im gelben Feld ist, sollte er sich Hilfe suche. Wenn der Trieb sehr stark ist, sich letztlich das ganze Leben darum dreht und der Patient auch den Wunsch dazu hat, kann man auch medikamentös einiges steuern – beispielsweise durch hormonelle Therapie.“
Besonders hohe Rückfallquote bei Pädophilen
Weitere Inhalte einer Psychotherapie können laut des IPVT sein, das sexuell abweichende Verhalten zu reduzieren oder zu kontrollieren und ein nicht deviantes beziehungsweise übliches Sexualverhalten aufzubauen oder zu verbessern. Außerdem zählen der Aufbau oder die Verbesserung sozialer Fertigkeiten wie zwischenmenschliche Kommunikation und Selbstsicherheit dazu. Kognitive Verzerrungen sollen verändert werden. Etwa wenn Täter angeben, die Kinder seien mit Handlungen einverstanden gewesen, sie seien selbst nicht verantwortlich oder die Opfer würden die Ereignisse schnell wieder vergessen. Letztlich setzt man auch hier auf eine Rückfallprävention.
Aber funktioniert das auch? Welche Erfolgsaussichten hat eine Therapie von Sexualstraftätern? Das Bundesjustizministerium hat einen Bericht zur „Sozialtherapie von Sexualstraftätern im Justizvollzug“ vorgelegt. Darin werden verschiedenen Metaanalysen vorgestellt, die zeigen, dass Therapien das Rückfallrisiko signifikant senken können. Laut Polizeilicher Kriminalstatistik ist die Einschätzung der Rückfallgefährdung bei Sexualstraftätern aufgrund der Dunkelfeldanteile durchaus schwierig. Studien legen nahe, dass die Rückfälligkeit der Täter mit einem Fünftel weitaus geringer ist als gemeinhin vermutet wird. Bezieht man jedoch die Dunkelfeldanteile mit ein, ist die Rückfallquote höher und unterscheidet sich je nach Art des Vergehens. Besonders hoch scheint das Rückfallrisiko bei pädophilen Straftätern zu sein. Der Sexualwissenschaftler Klaus Michael Beier, Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin am Berliner Universitätsklinikum Charité, hat bei einer groß angelegten Studie festgestellt, dass vier Fünftel der pädophil veranlagten Männer rückfällig wurden.
„Meistens ist das eine lebenslange Begleitung. Das kann immer wieder einen großen Teil der Gedanken einnehmen“, schätzt es Dr. Zimmermann ein. Gleichwohl, so betont er, seien Paraphilien weder mit Dissexualität noch mit strafbaren Handlungen gleichzusetzen.