Das unscheinbare Fischerörtchen Marseillan ist die Heimat von Noilly Prat. Von hier aus hat das Unternehmen seinen weltweiten Siegeszug gestartet und nicht nur die Gourmetküchen und Bars der ganzen Welt erobert.
Marseillan – das ist ein ganz stiller Ort in Südfrankreich. Seine beigen Steinfassaden drapieren sich gemütlich um den alles überragenden imposanten Kirchturm der Eglise Jean Baptiste. Im Herbst betten sich auch die kleinen Boote still in der Unauffälligkeit dieses pittoresken Fischerörtchens am Étang de Thau im Hérauld in Okzitanien, mitten in der Region Languedoc-Roussillon. Wir sind in Frankreichs ältester Weinregion, und in Marseillan wurde Spirituosen-Geschichte geschrieben. Benannt nach der roten Rebsorte Marselon, die hier kräftig an den Rebstöcken der umliegenden Weinberge wächst, befindet sich hier die Urstätte von Frankreichs ältestem Wermut.
Der Original French Dry Vermouth Noilly Prat gilt bei Barkeepern aus aller Welt als „König der trockenen Wermuts" und hat auch in den Kochtöpfen hochkarätiger Sterneköche seinen festen Platz. 1975 servierte Maître Bocuse keinem Geringeren als dem französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing im Élysée-Palast seine berühmte Trüffelsuppe „mit W-Schuss". Helles Fleisch, Fisch und Meeresfrüchte lieben es, in mit Noilly Prat verfeinerten Soßen zu schwimmen. Wer nach Marseillan pilgert, sollte sich aber auch das Fischige in Form von Austern aus den nahe gelegenen Étang-de-Thau-Lagunen nicht entgehen lassen. Die mit dem zitronig-würzigen Wermut pochierten Huîtres de Bouzigues entfalten sich perfekt und explodieren förmlich am Gaumen.
Das 1813 von einem gewissen Joseph Noilly ertüftelte Feingebräu aus Wein, Kräutern und „Geheimnis" wurde ursprünglich als Gesundheitstrunk konzipiert – die Rezeptur wird bis heute wie ein Staatsgeheimnis gehütet, und nur eine Hand voll Menschen zählen zu den Eingeweihten der Ur-Rezeptur. Der Zweitname Prat kam 1844 durch eine Liebesverbindung: Anne-Rosine Noilly, Josephs Enkelin und wohl die treibende weibliche Kraft des Unternehmens, heiratete Claude Prat. 1855 gründete dieser mit Enkel Louis das Unternehmen, das sofort den US-Markt eroberte. Nur zwei Übersee-Kisten mit dem bitteren Goldtröpfchen waren die Basis eines riesigen Exportgeschäfts, das bis heute anhält. Privilegiert, denn zwei der insgesamt vier Sorten werden immer noch ausschließlich in die USA exportiert. Wenn die Chemie stimmt, bleibt eine Marke 200 Jahre am Licht. Bei der detektivischen Spurensuche landet man auch im Chicago der 20er-Jahre – der Wiege des Ur-Martini. Dort, wo Bartender Martini di Arma di Taggia den Drink im legendären Knickerbocker Hotel erfunden hatte und ihn mit einem Hauch von Noilly Prat veredelte.
Die Rezeptur ist bis heute ein Geheimnis
Seinen Namen verdankt der Wermut – international Vermouth – dem Wermutkraut (Artemisia absinthium). Die schon von Hildegard von Bingen genutzte Heilpflanze prägt durch ihre bitteren Aromastoffe den Geschmack. Der Urvater dieses aromatischen Weinveredlungsverfahren ist aber kein Franzose, sondern Senior Antonio Benedetto Carpano, der 1786 in Turin eigentlich nur einen Trick anwenden wollte, um die Aromen billiger Weine durch Zugabe von lieblichen Kräutern aufzupimpen. Bis heute ist der italienische Wermut geschmacklich davon geprägt, und die Franzosen haben ihn – ihrer feinen Zunge entsprechend – in trockener Variante mit einem ganzen Bouquet Gewürzen und Kräutern moduliert.
Nicht alles, was die aufwendige Herstellung des Noilly Prat betrifft, tritt ans Licht. La Maison Noilly Prat versteht etwas davon, der Marke eine Aura zu verleihen. Ein Eintauchen in die „Halbschattenwelt", sprich ein Besuch der geheimnisumwobenen Produktionsstätte, die ein letztes Stück Rezeptur-Offenbarung zurückhält, lohnt sich und fühlt sich an, als ob man sich Räume des Obskuren, den sogenannten „Salles des Secrets" (mit einer Original Gustave Eiffel-Wendeltreppe) einem Familiengeheimnis nähert.
Atem anhalten, schauen, schnuppern, kosten. Im Maison Noilly Prat, das durch kompetente Führungen einiger kundiger Hausdamen (täglich 10.30 und 15 Uhr auf Englisch, deutsche Führungen immer um 16 Uhr donnerstags bis sonntags) zu besichtigen ist, ist der große Geist der Erfinder noch zu spüren. Wie durch Magie öffnen sich die Tore in die diversen Produktionsräume.
Bis 2015 gab es hier noch den Maître de Chai. Jean-Louis Mastoro, seines Zeichens Kellermeister, schwang hier mehr als 40 Jahre lang das Zepter. Der Südfranzose war in gewissem Sinne die Seele des mittlerweile globalisierten Unternehmens, das 1971 für 1,4 Milliarden US-Dollar an den italienischen Spirituosenhersteller Martini & Rossi verkauft wurde. Eine sinnvolle synergetische Verbindung, die zum Kultspirituosenpaar der 70er-Jahre wurde. 1994 hat Bacardi – bis heute einer der größten Global Player der Branche – den Zuschlag bekommen. Werte wie Tradition und Handwerk blieben, Rezeptur und Produktionsort sind seit 1813 gleich. Mit Erfolg: Das heutige Produktionsvolumen liegt bei drei Millionen Flaschen im Jahr.
Open-Air-Kino der besonderen Art
Im großen Eingangsportal sind die Flaschen wie Pyramiden aus mehrfarbigen Glaskorsetts aufgebahrt. Heute werden hier vier Sorten hergestellt: Neben dem Original Dry produziert Noilly Prat unter anderem den „Extra Dry" (Botanicals: Römische Kamille, französischer Enzian, Bitterorangenschalen und Muskatnuss) und den „Rouge" (Botanicals: Griechischer Safran, französischer Lavendel, Madagaskar-Nelken, Kakaobohnen aus Venezuela). Während der leicht schokoladig schmeckende Rote, der nur im Werksverkauf und den USA erhältlich ist und in Europa nur im Spanien vertrieben wird, sich bestens für Cocktails wie einen bitter-süßen Negroni mit Gin und Campari oder einen Manhattan auf Whiskybasis eignet, steht der bernsteinfarbene Ambre charakterstark für sich. Mit Botanicals wie Rosenknospen, Kardamon aus Indien und Zimt aus Sri Lanka ist er die wärmende Variante für vollmundige, leicht würzige Drinks in der Herbst- und Winterzeit.
Durch das Portal geht es nach Anmeldung in die heiligen Hallen, in denen Frankreichs erster Wermut produziert wurde. Fast sakral wirken die riesigen Holzfässer im Halbdunkel der ‚Chai des Mistelles‘ – einer zwielichtig abgedunkelten Zwischenhalle. Die Grundweine Clairette und Piquepoul Blanc oder Picpoul de Pinet werden als Traubenmost in bis zu 40.200 Liter großen Fässern vinifiziert. Die moderate Bildung von Tanninen und eine sehr geringe Verdunstung sind auf die Dichte des Holzes und die Größe der Fässer zurückzuführen.
Auf ein Fingerschnippen öffnet sich die Tür zu einem Open-Air-Kino der besonderen Art: An die 2.000 bis zu 70 Jahre alte Fässer (Fassungsvermögen 600 Liter) aus von Regen und Sonne gebleichtem Holz der Kanadischen Eiche ruhen zwölf Monate im „L’Enclos", einem ummauerten, nicht überdachten Außengelände. Diese von 300 Sonnentagen im Jahr bestrahlte Arena soll wohl die Segelboote der Geburtsstunde des französischen Wermuts ersetzen, als der Wein durch die langen Überfahrten durch Regen, Sonne und Sturm seine Farbe und Geschmack erhielt.
Ein Zufallstreffer? Oft entstehen Rezepturen durch unliebsame Bedingungen. Dieser „Deal mit der Natur" ist aber öffentlich bekannt. Durch diese spezielle Sonnen- und Sauerstoffgerbung oxidiert der Wermut schneller, erhält seine typische klare, trockene und sehr runde Aromen-Grundierung sowie auch seine Herzen erwärmende Bernsteinfarbe.
Verkostung an der hauseigenen Bar
Alle geschmacklichen Unterschiede zwischen den einzelnen Jahrgängen verschwinden, um einen homogenen Grundton zu generieren. Im Anschluss kommt der Wein in riesige Stahltanks und wird mit Mistelle gemixt und einem mit Alkohol und etwas Himbeergeist angereicherten Traubensaft abgerundet.
Im Kräuterraum lagern neben bitterem Wermut an die 40 sonnengetrocknete Gewürze aus aller Welt. In den 20-Hektoliter-Fässern vollzieht sich der letzte Akt der Noilly-Prat-Methode: Je zwölf Kilogramm einer geheimen Vierzig-Botanical-Mischung kommen auf ein Fass und werden vom Kellermeister oder auch Herbalisten drei Wochen lang jeweils drei Minuten pro Tag mit einem langen Eisenstab kräftig, aber gefühlvoll mazeriert, was man fachsprachlich als Dodinage bezeichnet.
Verkosten kann man die vier Wermut-Grazien pur oder als Mixdrink in der im Spätsommer neu eröffneten Bar. Und wenn man sehr charmant mit dem extra aus London übersiedelten Barmann Steve plaudert, verrät er auch die eine oder andere Rezeptur. Auf Wunsch kann man sich in einem Workshop – mit Diplom – auch selbst einen Noilly-Prat-Cocktail zusammenixen, um darin als Krönung höchstpersönlich eine halbmondförmige Lucques-Olive aus den nahe gelegenen L’Oulibo-Olivenhainen zu versenken.