Was für viele Menschen in Zentral-Europa unvorstellbar ist, ist für Isländer ganz normal: in der Nähe eines aktiven Vulkans zu wohnen. Die Bewohner des kleinen isländischen Ortes Vik kennen diese Situation. Sie müssen jederzeit damit rechnen, dass Katla, der zweitgrößte Vulkan der Insel, ausbricht und ihr Leben auf den Kopf stellt.
Gletscher-Guide Aron Sturluson steht mit Sonnenbrille auf einem kleinen Hügel und schaut über die Unmengen von Schnee und Eis vor ihm. Türkisblau schimmert der Gletscher Solheimajokull im Sonnenlicht. Doch so atemberaubend dieser Ort im Süden Islands in diesem Moment wirken mag, so gefährlich ist er gleichzeitig. Denn diese Unmengen an Schnee und Eis, die nur einige Meter entfernt vor Sturluson liegen, können innerhalb weniger Stunden seine Heimatstadt Vik größtenteils überfluten. Unter dem Gletscher schlummert Islands zweitgrößter Vulkan, der normalerweise zweimal in einem Jahrhundert ausbricht. Doch seit 1918 gönnt sich Katla eine Pause – es ist also nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Naturgewalt das nächste Mal zeigt. Sollte das passieren, wird der Gletscher über Katla innerhalb weniger Stunden schmelzen und als Gemisch aus Dreck, Schnee und Wasser zum Meer fließen. Und genau auf dieser Strecke liegt das 600-Einwohner-Dorf Vik. „Für uns ist die Situation nichts Außergewöhnliches. Die meiste Zeit versuche ich, nicht daran zu denken. Wenn es passiert, dann soll es passieren", sagt Aron Sturluson.
Der blonde, 26 Jahre alte Isländer lebt seit zwölf Jahren in Vik. Der kleine Ort mit dem berühmten schwarzen Sandstrand ist seine Heimatstadt. Gebürtig kommt er zwar aus der Flughafenstadt Keflavik, doch seine Familie stammt aus Vik. Deshalb ist Aron Sturluson 1995 dorthin wieder zurückgekehr, um unter anderem als Gletscher-Guide und Feuerwehr-Mann zu arbeiten – auch wenn er sich damit freiwillig in die Gefahrenzone von Katla begibt. „Der kleine Ort Vik liegt in direkter Nähe zu Katla, deshalb muss man sich dort am meisten Sorgen machen, wenn der Vulkan ausbricht", erklärt der isländische Vulkan-Experte Pall Einarsson, der als Geophysiker an der University of Iceland forscht.
Ständige Überwachung
Mit Hilfe von modernsten Mess-Instrumenten überwacht er von seinem Büro in Islands Hauptstadt Reykjavik aus alle 32 aktiven Vulkane der Insel. Mehrere Bildschirme zeigen Karten von Island, auf denen die verschiedenen Vulkane markiert sind; auf anderen Monitoren blinken aktuelle Daten von den Seismografen auf, die Bodenvibrationen messen – und auch Katla zeigt immer wieder Anzeichen dafür, dass er noch am Leben ist. „Fast jeden Tag gibt es dort kleine Erdbeben, die aber für einen Menschen nicht spürbar sind. Im Jahr 2011 hat es auch einen Ausbruch gegeben, der aber nur einen ganz kleinen Teil des Gletschers zum Schmelzen gebracht hat. Das hat schon gereicht, um eine Brücke in der Nähe von Vik zum Einsturz zu bringen", sagt Pall Einarsson, „allerdings kann nur ein großer Ausbruch von Katla das Eis des Gletschers komplett durchdringen und damit die Flut auslösen."
Wann genau die nächste große Eruption bevorsteht, kann Pall Einarsson nicht sagen. Seine Geräte ermöglichen es ihm, wenige Stunden vor einem Ausbruch die Bevölkerung und Touristen zu warnen. Voraussagen über Wochen im Voraus sind für die Wissenschaftler jedoch nicht möglich. Darüber hinaus lassen sich aber keine genauen Aussagen treffen. „Das einzige, was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass Vulkane unberechenbar sind", so Einarsson, der allerdings davon ausgeht, dass sich Katla nicht mehr lange eine Ruhephase gönnen wird.
Für diesen Fall versuchen sich Aron Sturluson und die anderen Dorfbewohner bestmöglich vorzubereiten. Seit Jahren wird an einem Notfallplan gearbeitet, der dann in Kraft treten soll – Sturluson ist als Feuerwehrmann im Ernstfall auch im Einsatz. „Sobald die Mess-Instrumente einen Vulkan-Ausbruch anzeigen, wird als erstes automatisch an alle Smartphones im Umkreis von 50 Kilometern um Katla eine Warnung gesendet", sagt Aron Sturluson.
Im Ernstfall muss es schnell gehen: Nach dem Vulkanausbruch bleiben maximal drei Stunden, im schlimmsten Fall nur eine, bis der geschmolzene Gletscher das kleine Örtchen Vik erreicht. Allerdings gehen die Bewohner nicht davon aus, dass das ganze Tal überflutet wird. Nur die tiefer gelegenen Häuser wird es vermutlich erwischen, erklärt Aron Sturluson. Deshalb sollen dort alle Bewohner in höher gelegene Orte flüchten – wie zum Beispiel zur Dorfkirche mit dem roten Dach, die über Vik thront.
Je nachdem wie stark der Ausbruch ist, muss ganz Vik vorübergehend evakuiert werden. „Außerdem ist es möglich, dass sich durch die Unmengen an Wasser, die ins Meer fließen, ein Tsunami bildet, der dann zurück ans Land kommt", erklärt Aron Sturluson in dem Feuerwehr-Haus des Ortes, während er auf einem Bildschirm die aktuellen Daten für Katla checkt, „und dieser Tsunami ist die größte Gefahr."
Die Bewohner von Vik müssen also auf alles vorbereitet sein – und das sind sie durch regelmäßige Sicherheits-Treffen auch. Ein viel größeres Problem sind die Touristen, die in den vergangenen Jahren vermehrt in das kleine Städtchen strömen. „Viele Besucher wissen nicht über Katla Bescheid und, wie sie sich im Notfall zu verhalten haben", erklärt Aron. Zwar sollen die Hotels den Notfall-Plan an ihre Gäste weitergeben – doch Aron Sturluson zweifelt daran, ob das in der Realität auch wirklich so passiert. Deshalb hofft er, dass durch die automatische Handynachricht auf Englisch möglichst viele Touristen erreicht werden, die sich dann in Sicherheit bringen können. Neben der Flut, die durch einen Ausbruch ausgelöst werden würde, hätte eine Eruption auch noch weitere Folgen wie riesige Aschewolken und tagelange Gewitter.
Vorbereitet auf den Extremfall
Sturluson kann sich das lebhaft vorstellen, obwohl er selbst noch keinen Ausbruch erlebt hat. Sein Urgroßvater hat während der letzten Katla-Eruption ein Tagebuch geführt. „Er schreibt zum Beispiel, dass er wegen der Asche vor dem Haus seine eigene Hand nicht mehr sehen konnte. Außerdem hatte er tagelang Kopfschmerzen, weil der Vulkan-Ausbruch so laut war", sagt Aron Sturluson, während er in seinem Wohnzimmer-Sessel in dem Tagebuch blättert. Sein Zuhause in Vik will der 26-Jährige trotz dieses „Horrorszenarios", wie er es nennt, nicht verlassen. Bei sechs Ausbrüchen anderer Vulkane war er bisher schon live dabei: „Es ist doch etwas Besonderes, wenn man ein solches Naturereignis miterleben darf." Ganz ähnlich sieht das auch Reynir Ragnarsson. Der 84-Jährige hat seit seiner Kindheit sein Leben in Vik verbracht – und er wollte niemals weg. Wieso auch? Nur wenige Kilometer mit dem Auto aus der Stadt hinaus, wartet jederzeit startbereit Reynirs größtes Hobby: sein Flugzeug. Mit der 50 Jahre alten Propellermaschine hebt er mehrmals im Monat über die holperige, derzeit schneebedeckte Startbahn ab. Am liebsten geht es dann über den Gletscher, unter dem Katla schlummert. „Ich liebe es zu beobachten, wie sich der Gletscher verändert. Wenn ich 14 Tage nicht fliege, dann muss ich wieder starten, sonst bin ich unglücklich", sagt Reynir.
Für ihn hat der Vulkan eine besondere Bedeutung. Seit seiner Kindheit ist er es gewohnt, jederzeit auf den Extremfall vorbereitet zu sein, der bis jetzt in seinem Leben aber noch nicht eingetreten ist. Deshalb wartet Reynir sehnlichst darauf: „Ich will den Vulkanausbruch auf jeden Fall noch erleben. Ich wäre sauer, wenn Katla ausbrechen würde, wenn ich schon tot bin." Was für Zentraleuropäer verrückt klingt, ist für Isländer ganz normal. „Egal, wo man in Island lebt, man wohnt in der Nähe eines Vulkans. Wir sind daran gewöhnt", sagt Aron Sturluson und grinst, während er über den schier endlos wirkenden Gletscher schaut.