Seit dem 19. Januar läuft in Berlin die „Grüne Woche", die weltgrößte Messe für Ernährung und Landwirtschaft. Zeit für einen kritischen Blick auf Brüssel, die Export-Fixierung und Massentierhaltung.
Rund 65 Prozent der Europäer wollen laut repräsentativen Umfragen die Agrarpolitik der Europäischen Union in Brüssel verwaltet sehen – ein klarer, pro-europäischer Auftrag. Allerdings fordern die Bürger auch eine radikale Wende hin zu Klima- und Tierschutz. Die Empfänger von Subventionen aus dem Agrarhaushalt sollen die EU-Bevölkerung mit hochwertigen Lebensmitteln versorgen und dabei den Tierschutz als zweitwichtigste Aufgabe der Landwirtschaft sicherstellen. Vom EU-Agrarhaushalt, der mit knapp 60 Milliarden Euro pro Jahr ausgestattet ist, profitieren bisher jedoch vor allem Großgrundbesitzer und Industrieunternehmen.
Mit dieser Agrarpolitik verfehlt die Agrarwirtschaft viele Nachhaltigkeitsziele. Das Insekten- und Artensterben sollte bis 2010 EU-weit gestoppt werden: Ziel mächtig verfehlt! Die Klimaemissionen sollten bis 2020 um 20 Prozent reduziert werden: verfehlt. In Deutschland steigen die Emissionen der Agrarwirtschaft seit 2007 im Zuge des Neubaus neuer Tierfabriken in industriellen Maßstäben an. Die Nitratbelastungen sollen im Grundwasser sinken: Ziel verfehlt. Hauptgrund: Zu viel Gülle auf zu wenig Fläche in viehstarken Regionen.
Das europäische Leitbild der Landwirtschaft als multifunktionaler Wirtschaftsbereich, der gesunde Lebensmittel und zugleich Tierschutz per Weidehaltung, vielfältige Landschaftsgestaltung und Bodenschutz „produziert", geriet in den vergangenen Jahrzehnten im Zuge der Exportfixierung auf den Weltmarkt aus dem Blick. Die wachsende Überproduktion bei Fleisch und Milch in der EU, allen voran in Deutschland, erlaubt es Schlachthöfen und Molkereikonzernen, die Preise gegenüber den Bauern sogar unter die Produktionskosten zu drücken. Selbst der Weltmarktpreis fällt, seit die EU die Mengenbegrenzung für Milch 2015 abgeschafft hat. Leidtragende sind die Bauern hierzulande, die keine kostendeckenden Preise erhalten, und die Bauern in Ländern des Südens, in denen Milchpulver und Schweinefleisch zu Dumpingpreisen verramscht werden und dadurch lokale Märkte zerstören.
Überproduktion drückt Weltmarktpreise
Bauern-, Umwelt- und Verbraucherorganisationen fordern daher grundlegende Reformen. So demonstrieren in Berlin jährlich Zehntausende Menschen dafür, Anreize für (Jung-)Bauern zu schaffen, um im Zuge der Erzeugung gesunder Lebensmittel auch Leistungen für Gemeingüter wie Klima-, Umwelt- und Tierschutz zu erbringen. Die anstehende EU-Agrarreform muss zugleich die globale Flächenkonkurrenz reduzieren, die zwischen Grundnahrungsmitteln, Futtermitteln und Agrartreibstoffen sowie pflanzlichen Industrierohstoffen aufgebaut wurde und eine wachsende Bedrohung der globalen Ernährungssicherung darstellt.
Um diese Forderungen zu konkretisieren, schlägt Germanwatch ein Modell für eine Neue Agrarpolitik vor. Im Zentrum stehen dabei Transparenz sowie Klima- und Tierschutz. Konkret sollen künftig wie bei der Eierkennzeichnung alle Lebensmittel EU-weit einheitlich in die Kategorien 0, 1, 2, 3 eingeteilt und gekennzeichnet werden. Die Ziffer 0 entspricht den Anforderungen des EU-Ökolandbaus. Die Ziffern 1 und 2 kennzeichnen Produkte von Bauernhöfen mit geringerem Pestizideinsatz, tierfreundlicher Weidehaltung, mehr Platz je Tier im Stall und wenig Antibiotikabedarf. Die Ziffer 3 zeigt an, dass ein Produkt von Agrarbetrieben stammt, die lediglich gesetzliche Mindestanforderungen einhalten. Ein Kürzel für die regionale Herkunft findet sich neben dem Code – genau wie heute schon beim Ei.
So können Konsumenten am Verkaufsregal die aus ihrer Sicht „besten Bauern" und regionalen Lebensmittel erkennen und zu deren Wertschöpfung beitragen. Diese Kennzeichnungspflicht ermöglicht es auch, Produkte aus industrieller Tierhaltung und pestizidintensiver Erzeugung (Ziffer 3) bewusst zu meiden. Zugleich muss die Agrarförderung konsequent an die öffentliche Leistung der Betriebe gekoppelt werden und ist damit transparent im Zahlencode 0, 1, 2, 3 auf den Produkten abgebildet. Perspektivisch wird die Förderung für Betriebe mit niedrigen Standards reduziert, und läuft schließlich ganz aus. Gleichzeitig werden Betrieben zuverlässig Anreize geboten, wenn sie ihr Erzeugungssystem auf eine höhere Stufe weiterentwickeln und halten wollen, zum Beispiel von Stufe 3 mit industrieller Schweinehaltung etwa auf Stufe 2 mit mehr Platz je Tier im Stall und ohne Gentechnik.
Agrarhaushalte umverteilen
Die Eier-Kennzeichnungspflicht hat bereits Berge am Markt versetzt. Der Code ermöglicht Verbrauchern seit 2004 Tierschutz von Tierleid zu unterscheiden und Produkte aus Käfigbatterien zu meiden. Im Jahr 2015 kauften Verbraucher in Deutschland 99 Prozent der Eier aus alternativen Haltungen (Kennzeichnungscode 0, 1, 2). Nur wenn das Erfolgsmodell der Pflicht zur Eierkennzeichnung auf alle Lebensmittel übertragen wird, kann das wachsende Interesse der Verbraucher nach Lebensmitteln mit höheren Qualitäten und aus ihrer Region gezielt in effektive Nachfrage umgesetzt werden. Ergänzend müssen geltende EU-Standards im Umwelt- und Tierschutz in Deutschland ohne Ausnahme umgesetzt und weiter verbessert werden. Es braucht neue Bodenschutzregeln, um die Klimaziele von Paris agrarpolitisch zu verankern. Landwirte, die ihre Erzeugung an die kommenden höheren gesetzlichen Anforderungen anpassen wollen, gilt es, frühzeitig auszubilden, zu beraten und zu fördern. Dazu ist eine tiefgreifende Umverteilung der milliardenschweren Agrarhaushalte in Brüssel und Berlin erforderlich.
Die bisher von der EU gewollten steigenden Exportmengen bei Milch und Fleisch führen hingegen zu sinkenden Weltmarktpreisen, die auch die Rohstoffpreise innerhalb Deutschlands und der EU bestimmen. Diese seit Jahren sehr niedrigen Erzeugerpreise können die Kosten für eine gesellschaftlich verantwortliche Erzeugung nicht decken. Die Exportstrategie der Bundesregierung und das Versprechen für höhere Standards schließen sich gegenseitig aus. Der Weltmarkt zahlt nicht für Umwelt- und Tierschutz.
Ziel von Germanwatch ist es, die landwirtschaftliche Erzeugung in der EU auf ein Niveau zu bringen, das sich an der Selbstversorgung der Bevölkerung orientiert, die Ökosysteme nicht überlastet und eine tiergerechtere Haltung etabliert.
Zugleich gilt es, den Konsum tierischer Lebensmittel auf ein gesundes und klimagerechtes Maß – auf etwa die Hälfte des heutigen Konsums – zu senken. Auf diese Weise würde der Umfang der Flächen, die derzeit vor allem für EU-Futterimporte beansprucht werden, in Ländern des Südens deutlich reduziert. EU-Überschüsse und damit Exporte zu niedrigen Preisen auf die Märkte von Kleinbauern im globalen Süden würden gebremst. EU-Exporte von Spezialitäten wie hochwertigem Käse, Wein oder Bergkräuterprodukten zu Preisen, die eine sozial- und umweltverträgliche Erzeugung erlauben, werden weiterhin in überschaubarem Umfang stattfinden und stellen einen begrüßenswerten Austausch von regionalen Kulturgütern dar. Aber für Exporte von Massenprodukten der Nahrungsmittelindustrie sollten unsere natürlichen Ressourcen nicht weiter belastet und zerstört werden.