Die Tabuthemen sind abgesteckt, die einigungsfähigen Bereiche definiert. Eine ganze Reihe von Themen ist noch offen. Große Ziele der letzten Regierung sind einkassiert.
Ein großes Zukunftsprojekt war in diesen Sondierungen nicht zu erwarten. Die großen Streitthemen waren definiert: Das Flüchtlingsthema auf der einen Seite - mit wenig Spielraum für die Union, hatten sich doch gerade erst die in dieser Frage lange heftig zerstrittenen Unions-Schwestern mühsam geeinigt. Bürgerversicherung und Steuerpolitik auf der anderen Seite. Wobei auch den SPD-Verhandlern schon von vorneherein klar gewesen sein dürfte: Ein Megaprojekt mit Systemwechsel wie der Einstieg in eine Bürgerversicherung wird kaum mit einem 20-Prozent-Ergebnis durchzusetzen sein. Am Ende der Sondierungen steht nun ein Papier, das vor allem angesichts der Vorgeschichte darum bemüht ist, für alle Beteiligten gesichtswahrende und realistische Kompromisse in einzelnen Politikfeldern zu präsentieren.
Die Union hat sich weitgehend in der Flüchtlingsfrage durchgesetzt, wenn auch jetzt statt starrer Zahlen Korridore verhandelt wurden. Dass die SPD die Rückkehr zur paritätischen Krankenkassenfinanzierung erreicht hat, ist ein weiterer Schritt, die neoliberal geprägte Regierungspolitik Schröders zu korrigieren. Es sind Stellschrauben im System, kein Systemwechsel, die da bislang verhandelt wurden. Für das von Parteichef Martin Schulz im Wahlkampf deklarierte Ziel sozialer Gerechtigkeit gibt es immerhin einige Mosaiksteine wie Vereinbarungen beim Thema Rentenniveau oder den Einstieg in den viel diskutierten Passiv-Aktiv-Transfer für Langzeitarbeitslose. Erfolge, die aber auch für die eigentlichen Koalitionsverhandlungen, so sie seine Partei billigt, Verhandlungsluft nach oben lassen.
Vieles liegt weiter im Ungefähren
Große Themen, deren Behandlung schon im Wahlkampf vermisst wurde, haben sich auch auf der Sondierungsagenda keinen Platz ganz vorne auf der Liste sichern können. Für das selbst von einigermaßen unverdächtigen Wirtschaftsinstituten als besorgniserregend ausgemachte Auseinanderdriften der Gesellschaft liefern die bisherigen Gespräche keine schlüssigen Antworten. Auch nicht zur Bekämpfung der jetzt schon ausrechenbaren Altersarmut. Bis 2025 soll das Rentenniveau zwar stabil bleiben, aber die Frage nach Sicherheit im Alter ist eine Generationenfrage. Und die Einigung beim Krankenkassenbeitrag beantwortet nicht die Frage nach der Zukunft des Gesundheitssystems insgesamt. Auch außenpolitisch ist noch vieles im Ungefähren. Unbefriedigend angesichts der Brandherde in der Welt und der Unberechenbarkeit führender Staatschefs, auch eigentlich Verbündeter, allen voran US-Präsident Trump. Für Koalitionsverhandlungen mithin ausreichend Themen – und noch mehr Luft nach oben.
Stützen können sich die möglichen künftigen Regierungspartner auf niedrige Arbeitslosenzahlen, hohes Steueraufkommen und die schwarze Null im Bundeshaushalt. Die Sondierer konnten über 45 Milliarden Euro Mehrausgaben für die Regierungszeit bis 2021 verhandeln. Die derzeit geschäftsführende Kanzlerin führt all das gern als ihren Erfolg an.
An Aufgaben herrscht kein Mangel
Dabei ist nicht unbedingt sie für die guten Zahlen verantwortlich. Und eine Reihe Leuchtturmprojekte aus der vergangenen Legislatur sind entweder gescheitert, dümpeln vor sich hin oder sind bereits in den Sondierungen gecancelt worden.
So schwor Angela Merkel noch im Wahlkampf Stein und Bein, dass am Klimaziel 2020 nicht gerüttelt werde, wonach nur noch 40 Prozent des CO2-Ausstoßes von 1990 verursacht werden sollen. Doch dieses ambitionierte Ziel wurde kurzerhand als eines der ersten Themen bei den Sondierungen endgültig aufgegeben. Die SPD war mindestens so froh wie die Union: Um das Klimaziel zu erreichen, hätte es einem sofortigen Kohleausstieg bedurft. Für die SPD und vor allem CDU ein ganz sensibles Thema. Da geht es um Arbeitsplätze in ohnehin strukturschwachen Regionen, dort ist ein Kohleausstieg nur schwer vermittelbar und kostet Wählerstimmen.
Das zweite große Leuchtturmprojekt der Kanzlerin kann man ebenfalls als nicht machbar betrachten. Eine Million Elektroautos sollten bis 2020 auf Deutschlands Straßen rollen. Ende 2017 waren es nicht mal 35.000 Fahrzeuge, die da leise surrend über die Straßen huschten. Die Kanzlerin hatte offenbar den falschen Beratern vertraut, als sie leichtfertig das Millionen-Ziel verkündete. Denn allen Beteiligten hätte klar sein müssen, dass man nicht innerhalb eines Jahrzehnts mal eben so die Elektromobilität zu einem Renner macht. Vor allem, wenn überhaupt keine Infrastruktur vorhanden ist. Dass die deutsche Autoindustrie offenbar kein wirkliches Interesse an E-Mobilität hat, kommt noch erschwerend hinzu.
Die Energiewende ist zumindest bei der Stromproduktion auf dem Weg, auch wenn die Verbraucher die Zeche mit gut und gern verdoppelten Strompreisen zahlen. Dass der wunderbare Offshore-Strom weiterhin nicht da hinkommt, wo er gebraucht wird, ist auch dem föderalen Staatsaufbau geschuldet.
Ein Ziel hat die Kanzlerin zu hundert Prozent umgesetzt: die schwarze Null (keine Neuverschuldung). Doch das ist definitiv nicht ihr persönliches Verdienst, auch nicht das ihres in dieser Sache äußerst starrköpfigen Finanzministers, sondern dem Umstand der Niedrigzinsphase zu verdanken. Bund und Länder haben allein im vergangenen Jahr die Rekordsumme von 50 Milliarden Euro an Zinsen eingespart. Die schwarze Null ist allerdings beim Steuervolk nicht unbedingt beliebt. Denn um sie zu erreichen, sind viele eigentlich dringende Infrastruktur-Investitionen in Straße, Schiene und Schifffahrtswege unterblieben. Das Ergebnis ist bekannt, der Zustand der Bundesautobahnen und -straßen hat in Teilen Somalia-Qualität, reihenweis sind Brücken für Lkw gesperrt. Die Bahn ist auf Hunderten von Kilometern auf Schleichfahrt, wo doch gerade die Bahn eigentlich die Alternative zum Verbrennungsmotor ist. Aufgaben hat die bisherige Regierung jedenfalls ausreichend übrig gelassen.