Die Bergsteigerdörfer im Sellraintal in Tirol wehren sich gegen die Wachstumsspirale des Skitourismus. Statt Bettenburgen und Massentourimus setzen sie auf Naturnähe und Ursprünglichkeit.
Luis Melmer, braune Stiefel, Cordhose, dunkelgrüner Wollpullover, 70 Jahre alt, sagt, er könne nicht mit am Frühstückstisch sitzen, er rieche nach Stall. Aber am Abend, wenn alle zurück seien vom Tag im Schnee, wolle er gern von früher erzählen. Von früher, als im Tiroler Sellraintal noch darüber gestritten wurde, wie viel Tourismus gut wäre und ob weniger Tourismus vielleicht sogar besser sein könnte. Aber jetzt sollten wir raus, „s‘isch a Kaiserwetter“, sagt der Gastwirt, Landwirt und Jäger.
Wer sich für Tourismus in den Alpen interessiert, kann von Tirol als Studienobjekt nur begeistert sein. 53.000 Menschen beschäftigt der Tiroler Tourismus, zählt 25 Millionen Übernachtungen im Winter. Wenn groß gleich gut bedeutete, dann wäre Tirol mit seinen gigantischen Skigebieten spitze. Aber es mehren sich Stimmen, die gegen das Dogma des Wachstums protestieren und eine Frage stellen, die manche Hoteliers und Liftbetreiber als ketzerisch empfinden: Wann ist genug genug? Gibt es ein Zuviel an Gästen? Muss man sich weiter öffnen, neue Märkte erschließen – oder womöglich in die entgegengesetzte Richtung gehen: Sich abschotten? Exklusiver werden?
Einige Dörfer haben sich abgewandt von der Winterwachstumsspirale. Auch sie wollen nicht ohne Urlauber leben – aber mit einem anderen Tourismus punkten. Mancher aus diesen Dörfern war jahrelang als Ewig-Gestriger verhöhnt worden. Wer sich gegen Liftausbau und Hotelisierung stemmte, wurde angefeindet. Doch das Blatt scheint sich zu wenden. Je schneller sich das Liftkarussell dreht, je mehr Orte bei der rasanten Fahrt rauszufliegen drohen, wenn der Winter sich nicht einstellen mag, desto entspannter schauen die Rückständigen in die Zukunft.
Bei Urlaubern mit einem anderen Tourismus punkten
So geschehen im Sellraintal nahe Innsbruck, vor der grandiosen Bergkulisse der Tiroler Alpen. Das Hochtal zieht sich von Ost nach West; es zählen dazu die Dörfer Sellrain, Gries im Sellrain sowie St. Sigmund mit ihren Weilern und ein kleines Skigebiet: Kühtai liegt auf über 2.000 Meter und bietet 40 Pistenkilometer. Doch in den anderen Dörfern zuckelt höchstens ein kleiner Schlepper einen Hang hinauf. Laut Prospekt-Prosa liege diese Ursprünglichkeit daran, „dass die Menschen durch ihre tiefe Verbundenheit mit diesem Tal schon sehr früh den Wert ihrer Landschaft erkannt und geplante Erschließungsprojekte abgelehnt haben.“
Allein: So war es nicht, wie Luis Melmer dann erzählt. Er betreibt im hintersten Lisenstal den Alpengasthof „Praxmar“, eine Landwirtschaft und eine Jagd gehören dazu. Im 14. Jahrhundert wurde der Hof erstmals erwähnt, in der 22. Generation wird er von der Familie bewirtschaftet. Die Zeiten waren oft schwer. Praxmar liegt auf 1.700 Meter Höhe, mehr als ein hartes Bergbauernleben war nicht zu erwarten, über Generationen nicht. Kein Wunder, dass ab den 60ern kleine Skilifte gebaut wurden. Luis Melmer, Jahrgang 1946, ein emotionaler Geschichtenerzähler, erinnert sich an die Anfänge. Eine Pistenraupe gab es nicht, „da habe ich vormittags mit den Gästen zusammen den Hang platt getreten. Und nachmittags durften sie umsonst Skifahren.“
Melmer erinnert sich aber auch gut daran, wie es weitergehen sollte. Ab den 70ern sollte die Praxmaer Lampsenspitze (2.876 m) mit Skiliften erschlossen werden. „Mein Vater war dafür. Der Bürgermeister wollte es. Aber wir Einheimischen hätten es nicht bezahlen können. Mir war klar, dass du die Heimat verlierst, wenn du Investoren von auswärts holst.“ Luis Melmer stemmte sich dagegen. Es gab eine Demo „auf die Lampsen hinauf, da kamen Skitouren-Jungs aus Innsbruck und Süddeutschland.“ Aus dem Lift wurde nichts, aber nicht Kraft des Widerstands der Zivilgesellschaft. „Befürworter und Investoren haben sich schlicht zerstritten. So haben wir hier herinnen unsere Ruhe gehabt. Aber ich war der Buhmann, der Spinner, derjenige, der alles verhindert. Die Nachbarn sind teilweise heut noch bös.“ Allein für die Projektionierung habe sich die Gemeinde heillos verschuldet; „das zahlen wir noch bis 2019 zurück.“
Mit der Skitour auf die Lampsenspitze
Ein Tiroler Tal ohne organisierten Wintertourismus! Drohte der Untergang des Sellraintales? Mussten alle auswandern? Liegt Praxmar im Winter verödet da? Mitnichten.
Ein Freitagmorgen im Januar. Grandios klares Wetter, zwei Tage zuvor hat es geschneit. Die Bergkette von Roter Kogel bis zum Lüsenser Fernerkogel gewinnt im anbrechenden Tageslicht an Kontur. Der Berg ruft ziemlich laut. Ab sieben Uhr rumpelt es im Haus, Gäste in Skiklamotten belagern das Frühstücksbüfett, schwitzen in dicken Hosen, füllen Thermoskannen, nichts wie raus. Auch der Parkplatz füllt sich, Tagesgäste reisen an. Bald haben die ersten Skitourengeher die Felle aufgezogen und starten bergauf. Wer bislang dachte, auf Skitour gehe man einsam auf Gipfel, lernt dazu. Die Lampsenspitze ist zu einem der beliebtesten Skitourenberge Tirols geworden, sage und schreibe bis zu 25.000 Begehungen im Winter werden gezählt. Dass eben kein Lift hinaufführt, dürfte ein Grund dafür sein. Außerdem ist Praxmar von Innsbruck und von Bayern aus leicht zu erreichen. Außer den Hausgästen kommen auch Tagesgäste herein auf einen Kaffee, bevor sie losgehen.
Ein unfassbares Gewusel herrscht auf den ersten Höhenmetern der Skitour. „Griaß enk“, ruft einer und schließt auf. Er trägt das Abzeichen der Tiroler Bergretter, ist aber zum Vergnügen unterwegs. Warum hat das Skitourengehen so zugenommen? In unserer hektischen Zeit ziehe es die Menschen noch mehr in die Natur, „aber Skifahren ist teuer geworden“, sagt der Bergretter Otto Baumann, Sellrainer, und Mitglied der Lawinenkommission. „In großen Skigebieten zahlt man 50 Euro für eine Tageskarte“. So ziehen an einem schönen Tag bis zu tausend Skitourengeher auf die Lamsenspitze. Da immer mehr Menschen aus eigener Kraft auf die Berge gehen, wurde das „Tiroler Skitourenlenkungskonzept“ gestartet. Das Sellraintal hat Schutzzonen ausgeschrieben, die Skibergsteiger freiwillig meiden sollen. Dazu gehören Wildruheflächen in der Nähe von Fütterungen und das Habitat von Birk- und Auerhühnern.
Abends im Alpengasthof „Praxmar“. Rotwangig sitzen glückliche Menschen um den Tisch. Herrscht also eitel Sonnenschein im Sellraintal? Wenn es nur so wäre. Es fällt das Stichwort Kalkkögel, ein Reizthema. Die Kalkkögel sind markante Felszacken zwischen dem Sellrain und dem Stubai, sie wurden 1983 zum Tiroler Ruhegebiet erklärt. Aber nun gibt es Pläne, darüber hinweg eine Seilbahn zu bauen. „Brückenschlag“ heißt das Projekt, das über die Kalkkögel führen und mehrere Skigebiete zusammenbringen soll. Robert Renzler, Generalsekretär beim Österreichischen Alpenverein, ein durchtrainierter Bergsportler, bekommt hektische rote Flecken vor Ärger. „Tirol hat die höchste Pistendichte weltweit, wir haben 4.400 Kilometer Piste, in der ganzen Schweiz gibt es insgesamt 7.400 Kilometer Piste!“ Es sei ihm unerklärlich, so Renzler „wie man überhaupt über die Kalkkögel nachdenken kann. Wenn wir schon hergehen und ein Ruhegebiet angreifen, ja was bleibt dann noch?“ In Wahrheit gehe es um einen Verdrängungsmechanismus der Lifte untereinander. „Jeder einzelne der Bürgermeister-Skilifte, wie wir die nennen, will bestehen bleiben.“
„Eine gewisse Kleinheit und Ruhe ausstrahlen“
Mit am Tisch sitzt Manuel Lampe, stellvertretender Geschäftsführer bei Innsbruck Tourismus. Schwungvoll breitet der junge Touristiker eine Pistenkarte aus. Man könnte durchaus, so Lampe, ein oder zwei der kleinen Lifte „zusperren“. Aber dann müssten die anderen besser ausgestattet und verbunden werden. Lampe bringt ein komplett österreichisches, um nicht zu sagen, Tiroler Argument ins Spiel: „Wenn es all diese kleinen Lifte nicht mehr gibt, wo sollten dann die einheimischen Kinder Skifahren lernen?“ Als gä
be es ein Menschenrecht auf Skifahren mit Skilift vor der Haustüre.
„Wachsen oder weichen, diese Wirtschaftsdoktrin wollen wir nicht einfach hinnehmen, sondern hinterfragen“, sagt Christina Schwann, Koordinatorin beim Österreichischen Alpenverein (ÖAV), die an diesem strahlenden Wintertag mühelos die 1.200 Höhenmeter zur Lampsenspitze auf Skiern hinauftanzte. Um kleine Gemeinden zu stärken, gründete der ÖAV die Initiative der Bergsteigerdörfer. Auch drei der Sellrain-Gemeinden zählen dazu. Ein Bergsteigerdorf muss vor allem Berge haben, sprich, vom Dorf zum seilbahnfreien Gipfel sollten es 1.200 Höhenmeter sein. Die Dörfer mit weniger als 2.500 Einwohnern sollen „eine gewisse Kleinheit und Ruhe ausstrahlen“. Im Dorf soll es eine Wirtschaft und einen Laden geben, keine riesigen Hotels, aber auf den Bergen bewirtschaftete Hütten. Bisher schafften 20 österreichische Dörfer und eines aus Deutschland die Aufnahme.
Ausgerechnet der Alpenverein? Außenstehende mag es überraschen: Der Alpenverein ist in den Alpen nicht sonderlich beliebt. Ein Tiroler Landeshauptmann verkündete einmal, einem Verein „zur Verhinderung des Wohlstandes in unseren Tälern“ werde er nicht beitreten. Zwar hatte der Alpenverein mit der Erschließung der Berge begonnen – so im Sellrain, wo 1908 die Westfalen-Hütte gebaut wurde –, doch nach gut hundert Jahren bemüht man sich, den Deckel wieder auf die Büchse der Pandora zu bekommen. Der ÖAV, wie auch der Deutsche Alpenverein, sperrt sich vor allem im Wintertourismus gegen immer noch mehr Skigebiete, Lifte, Beschneiung.
Die Bergsteigerdörfer setzen auf Wintersport ohne Lifte. Nach dem Tag auf die Lampsenspitze folgt Langlaufen, noch so eine Wintersportart aus eigener Kraft, wie die Muskeln deutlich melden. 15 Kilometer weit zieht sich eine Loipe ins Lisenstal mit ihrem großartigen Talschluss. Eine Wand baut sich da auf, gewaltige Felsen, da führt kein Weg weiter, außer zu Fuß. Nachmittags wird gerodelt, da geht es erst hinauf zur Juifenalm, da gibt es keinen Lift, und auch keinen Transport mit der Pistenraupe oder mit einem Jeep. Brav wandert man 600 Höhenmeter hoch, zieht den Schlitten hinter sich her, isst auf der Alm einen Apfelstrudel und saust wenn nicht jodelnd, dann doch juchzend zu Tal.
Er habe nichts gegen Skigebiete, sagt Luis Melmer. Aber der Winter biete doch mehr. Als es mal an Weihnachten überhaupt keinen Schnee gab, „war das total entspannt. Die Leute mussten einfach mal nix. Sie mussten nicht Skifahren, nicht Langlaufen, nicht auf Skitour gehen, weil es ja keinen Schnee gab.“ Die Gäste hätten ausgeschlafen, „ich bin mit ihnen zur Wildfütterung. Die hatten richtig Urlaub.“ Beim Spazieren durch den Zirbenwald komme man auf klarere Gedanken. „Da wandern wir an 500 Jahre alten Bäumen vorbei. Wenn man das mit einem Menschen vergleicht, der genau in der einen Urlaubswoche Schnee haben will.“ Und Schnee hin oder her: „A Urlaub in die Berg is albn schian“.
Vielleicht braucht es einfach das, was mit dem schönen Tiroler Wort als Hausverstand bezeichnet wird: In Anbetracht der schwindenden Schneemengen könnte den Ewig-Gestrigen die Chance gegeben werden, zu Vorreitern zu werden.