Dr. Halima Alaiyan aus Palästina hat die Auswirkungen des Dauerkonflikts zwischen Israelis und Palästinensern am eigenen Leib erfahren. Mit der von ihr gegründeten „Talat-Alaiyan-Stiftung" fördert sie Begegnungen von jungen Palästinensern, Israelis und Deutschen und engagiert sich für den Frieden.
Ihre großen dunklen Augen leuchten, wenn sie von den Jugendbegegnungen erzählt. Menschen liegen Dr. Halima Alaiyan am Herzen. Besonders junge Menschen aus Israel und Palästina, die die Ärztin mit Jugendlichen in Deutschland zusammenbringt. Zwei Wochen lang haben Jugendliche beiderlei Geschlechts im Alter von 14 bis 18 Jahren die Möglichkeit, sich auf deutschem Boden kennenzulernen, Vorurteile zu überprüfen und neue Perspektiven zu entwickeln. „Wir laden maximal 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein. Aus Israel kommen zwei Gruppen: Die eine besteht aus jüdischen, die andere jeweils zur Hälfte aus christlichen und aus muslimischen Jugendlichen arabisch-palästinensischer Herkunft. Eine dritte Gruppe bilden muslimische und christliche Palästinenser aus den besetzten Gebieten. Als vierte Gruppe schließlich sind deutsche Jugendliche dabei", sagt Halima Alaiyan. Auf diese Mischung achte sie sehr.
„Die ersten zwei Tage sind schlimm für die Teilnehmer. Sie beäugen sich misstrauisch." Noch dazu müssten jeweils ein israelischer, ein palästinensischer und ein deutscher Jugendlicher ein Zimmer teilen. Das sei hart für Palästinenser und Israelis, die gelernt haben, einander zu hassen. Am Anfang werde viel geweint. Der dritte Tag bringt die Wende, wenn Halima Alaiyan vom Schicksal der Juden in Deutschland erzählt und anschließend alle das frühere Konzentrationslager Sachsenhausen besuchen. „Die Palästinenser erfahren zum ersten Mal vom Holocaust und entwickeln Verständnis dafür, dass die Juden in ihr Land gekommen und ihnen ihre Heimat genommen haben. Es entsteht der Wunsch nach einer gemeinsamen, einer friedlichen Heimat." In Sachsenhausen breche das Eis. „Die Jugendlichen weinen gemeinsam und liegen sich in den Armen." Das sei immer wieder sehr ergreifend.
Danach geht es ins Saarland, an die deutsch-französische Grenze. „Wenn wir die Grenze besuchen, fragen die Jugendlichen, wo denn die Soldaten sind. Sie können nicht fassen, dass eine Grenze so offen sein kann – ohne Waffen, Mauern und Formalitäten." Im Angesicht des Gräbermeers von Verdun lernen die Teilnehmer dann, wie dort der Erste Weltkrieg gewütet hat. „An der deutsch-französischen Grenze sehen die Jugendlichen, dass Freundschaft und Zusammenarbeit trotz jahrhundertelanger Feindschaft möglich sind. Das lässt sie neue Hoff-nung schöpfen." Im luxemburgischen Schengen geht es um den Schengener Vertrag, die EU und deren offene Grenzen – Vorbilder für einen ähnlichen Prozess zwischen Israel und Palästina. „Ich möchte die Zuversicht vermitteln, dass Versöhnung möglich ist", so die Ärztin. Tatsächlich entstehen in den intensi-ven Wochen Freundschaften. „Etliche halten untereinander und zu uns bis heute Kontakt. Tal Elovts, ein Jugendlicher aus der ersten Begegnung, ist heute sogar Mitglied im Stiftungsvorstand."
„Die Palästinenser erfahren zum ersten Mal vom Holocaust"
Um für 40 Jugendliche Flüge, Unterkunft, Essen und Fahrten bezahlen zu können, ist die Stiftung auf Spenden angewiesen. Da das Spendenaufkommen die Gruppengröße bestimmt, ist Halima Alaiyan für jeden Euro dankbar. Besorgt nimmt sie wahr, dass es schwieriger wird, Sponsorengelder aufzubringen. Angestellte hat die Stiftung nicht, alle Arbeiten werden ehrenamtlich verrichtet – zum Großteil vom Vorstand selbst, in dem neben der Gründerin und Elovts der Arzt Prof. Wolfgang Werner tätig ist. „Zum Glück helfen uns liebe und herzliche Menschen unentgeltlich", freut sich Halima Alaiyan.
Geboren ist Halima Alaiyan 1948 – dem Jahr der Staatsgründung Israels – in Ibdis, einem kleinen Dorf zwischen Tel Aviv und Gaza. Als das Dorf bombardiert wurde, floh ihre Familie aus Palästina nach Ägypten, Baby Halima auf dem Arm ihrer Mutter. In dem Dorf, in das sie kamen, avancierte der im Obstbau erfahrene Vater sogleich zum Verwalter des örtlichen Paschas. „Ein großes Glück! Unser Vater hatte vom ersten Tag an Arbeit und wir ein Dach über dem Kopf." So wuchsen Halima und ihre Geschwister in Ägypten auf. Die beiden Jungen ließ der Vater studieren, die Mädchen durften zwar noch Abitur machen, mussten jedoch sofort danach vom Vater bestimmte palästinensische Männer heiraten. Und weil sich ihre Männer in Saudi-Arabien als Arabischlehrer beworben hatten, verschlug es auch die jungen Frauen dorthin.
Gerade einmal 17 Jahre alt gebar Halima dort eine erste, bald darauf eine zweite Tochter. Als ihr Mann 1965 nach Deutschland ging, um in Saarbrücken Medizin zu studieren, musste Halima mit ihren beiden Töchtern zu ihren Schwiegereltern nach Gaza ziehen, wo bald darauf der ersehnten Sohn Talat zur Welt kam.
Im August 1966 holte ihr Mann auch Halima nach Deutschland – leider zunächst ohne die Kinder. Die Vermieterin ihres Mannes empfing sie mit einem Blumenstrauß und nahm ihr die Angst vor den Deutschen. Im zweiten Schritt sollten die Kinder nachkommen. Was für ein Schock, als 1967 der Sechs-Tage-Krieg ausbrach und die Kinder in Gaza festsaßen. „Ich habe mich jeden Tag beim Roten Kreuz erkundigt. Dann erreichte uns die Nachricht, dass Talat schwer krank ist." Weil der Zugriff auf das Bankkonto in Gaza gesperrt war, nahm Halima Alaiyan für den Unterhalt und für Talats Flugticket jeden Job an, verkaufte Eis, bediente im Kaffee, ging putzen. Später machte sie an der Uniklinik in Homburg Sitzwachen und arbeitete als Stationshilfe.
Als Talat endlich nach Deutschland ausgeflogen werden konnte, wurde er sofort in der Kinderklinik in Homburg versorgt. Einige Zeit später konnten die Töchter folgen, die Familie war komplett. „War das ein Fest, als wir alle wieder beisammen waren!" Halimas Alaiyans Ehe zerbrach jedoch einige Zeit später und wurde 1974 geschieden. Im gleichen Jahr nahm sie in Saarbrücken ihr Medizinstudium auf. Schon als Kind hatte sie davon geträumt, Ärztin zu werden, sie hatte erlebt, wie ein Arzt mit einer Spritze die Asthmaanfälle ihres Vaters ganz schnell lindern konnte. So etwas wollte sie auch können! Während des ganzen Studiums arbeitete sie nebenbei für den Familienunterhalt.
1989 starb ihr Sohn an einer schweren Blutkrankheit
Fasziniert von der Unfallchirurgie – abgetrennte Finger und Gliedmaßen konnten so angenäht wurden, dass sie zumindest eingeschränkt wieder funktionierten – promovierte sie darin und erwarb 1979 ihren Abschluss. Für sie und ihre Kinder war damit der Weg frei, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Weil sie als Frau keine Facharztstelle in der Unfallchirurgie bekam, wandte sie sich der Orthopädie zu. Dort arbeitete sie engagiert als Klinikärztin, tat Dienste an Wochenenden und Feiertagen. Sie stieg zur Oberärztin, dann zur Chefärztin auf.
Der schmerzvollste Wendepunkt ihres Lebens trat ein, als Halima Alaiyans Sohn Talat Anfang 1989 der schweren Blutkrankheit erlag, an der er seit der Kindheit litt. 20 Jahre lang hatte er zwei- bis dreimal wöchentlich im Krankenhaus Transfusionen erhalten, nun war sein Körper erschöpft. Talats Tod ließ seine Mutter in ein tiefes Loch fallen. Sie wusste, dass sie etwas ändern musste und beschloss, eine Praxis zu eröffnen. „Ohne Eigenkapital war das ein Sprung ins kalte Wasser. Viele Kollegen rieten mir ab." Dennoch nahm sie einen hohen Kredit auf, beschäftigte Angestellte. „Die hohe Belastung und die Verantwortung raubten mir den Schlaf. Ich habe Tag und Nacht, samstags und sonntags bis zur Erschöpfung gearbeitet, habe nie Urlaub gemacht." Aber die Praxis lief von Anfang an, nach zwei Jahren konnte Halima aufatmen.
In dieser Phase beschäftigte sich Halima Alaiyan erstmals intensiver mit ihrer Herkunft – zuvor hatten ihr die Sorge um das kranke Kind und das Studium dafür keinen Raum gelassen. „Auf einmal lebte ich allein, ging einer geregelten Arbeit nach. Ich hatte in Deutschland eine neue Heimat mit anerkannter Staatsbürgerschaft gefunden und lebte in Freiheit, Sicherheit und Würde. All das erinnerte mich an die Erzählungen meines Vaters über seine Heimat und sein Dorf in Palästina."
Nicht ohne Angst beschloss sie, nach Israel zu reisen, um ihren Geburtsort zu besuchen, den sie nur aus den Erzählungen der Eltern kannte. „Nie zuvor hatte ich Kontakt zu Israelis gehabt. Ich war ja im Bewusstsein aufgewachsen, dass sie meine Feinde waren." Mit der Gast-geberfamilie recherchierte sie die Lage ihres Geburtsorts und traf dort einen alten Mann, der sich als Bekannter ihres Vaters entpuppte. „Das war sehr bewegend für mich." Beim Blick auf die Felder, auf denen die Obstbäume ihrer Eltern standen, fühlte sie: „Hier bin ich zu Hause, das ist mein Land, hier bin ich geboren." Diese starke Emotion habe sie selbst überrascht.
Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biografie mit den Stationen Palästina, Ägypten, Saudi-Arabien und Deutschland entstand in ihr ein Wunsch: „Ich wollte etwas tun gegen den Hass, die Unruhe, das Hin- und Herschieben von Schuldzuweisungen. Ich wollte Verantwortung für die Juden mittragen und gleichzeitig den Palästinensern helfen. Nicht zuletzt wollte ich Deutschland dafür danken, dass es mir und meiner Familie Schutz und meinem Sohn medizi-nische Hilfe geboten hat." Aufklärung sei wichtig: Viele Israelis wüssten wenig über die Situation der Palästinenser, genauso wenig wie Palästinenser über die Geschichte der Juden. Auch in Deutschland sei wenig bekannt über die Probleme von Palästinensern und Israelis, über das Bündel aus Unrecht, Hilflosigkeit, Unwissen und Vorurteilen.
Bundesverdienstkreuz 2009 erhalten
2003 gründete Halima Alaiyan in Saarbrücken die nach ihrem Sohn benannte Talat-Alaiyan-Stiftung. Von Anfang an stand diese unter der Schirmherrschaft der jeweiligen saar-ländischen Ministerpräsidentin beziehungsweise des Ministerpräsidenten. Das Ziel: Jugendliche sollten sich im direkten, nicht von Medien oder Politik beeinflussten Kontakt von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen: Wie lebst du? Was machst du? Kannst du dich frei bewegen und überall hinreisen? Bis heute haben rund 960 Jugendliche an dem Programm teilgenommen. 2009 erhielt Halima Alaiyan für ihr Wirken das Bundesverdienstkreuz.
Die Ärztin zog 2009 von Saarbrücken nach Berlin, um näher bei ihren Töchtern zu sein. Erst kürzlich sagte sie zu ihrer Tochter, wie froh sie sei, dass sie in Deutschland leben. „Hier kann man etwas aus seinem Leben machen. Im Gazastreifen sähe das anders aus."
Wieder geheiratet hat Halima nicht, den richtigen Mann mit Herz und Verstand hat sie nicht gefunden. Stets standen die Kinder und die Arbeit im Vordergrund. So ist die gutmütige Hündin Kira ihre ständige Begleiterin. Wenn Halima heute mit anderen Menschen zusammen ist, diskutiert sie gern intensiv und leidenschaftlich. Auch über deutsche Politik. Immer öfter komme dann von irgendeiner Seite der Spruch: „Wenn es ihnen hier nicht gefällt, warum gehen sie dann nicht dahin zurück, wo sie herkommen?" Spaßeshalber kontert sie dann: „Ja, ich denke oft daran, ins Saarland zurückzugehen." Dennoch: Solche Tendenzen machen ihr Angst, zunehmend werde sie trotz ihrer deutschen Staatsbürgerschaft als nicht hierher gehörend angesehen. Dabei sei Deutschland schon lange ihre Heimat. Ihre neue Heimat.