Einige Bundesstaaten in den USA wollen den Mindestlohn schrittweise verdoppeln. Mit dem „Fight for 15" gibt es eine soziale Bewegung, an der sich die Opposition gegen Donald Trump wieder aufrichten könnte. Eine neue Strategie: Wenn Reformen in Washington nicht möglich sind, dann eben von Stadt zu Stadt oder Staat zu Staat.
Als Shantel Walker, Pizzaverkäuferin aus New York, 2012 gegen ihren Hungerlohn auf die Straße geht, ahnt sie nicht, dass fünf Jahre später eine der größten Handelsketten der USA ihrer Forderung folgen wird. In den USA feiert eine soziale Bewegung überraschende Erfolge. Ihr geht es um den „Fight for 15", den Kampf um 15 Dollar pro Stunde. Das wäre einer der höchsten Mindestlöhne weltweit. Und was irrwitzig klingt, erweist sich als durchaus realistisch. Der Mindestlohn ist das neue Symbolthema und könnte sogar die oppositionellen Demokraten wieder mobilisieren.
Das liegt auch an der Fast-Food-Verkäuferin Walker, an einem Milliardär und einer Pflegerin aus Boston. „Mein Chef interessiert sich nicht dafür, dass ich keinen Cent sparen kann. Nichts für Möbel, nichts für meine Rente. Jeder Tag ist ein Kampf für mich", erzählt die 35-jährige Pizzaverkäuferin Walker.
Die West Avenue in Brooklyn ist ein Viertel mit großen Wohnsilos. Von dort fährt Walker jeden Morgen eine halbe Stunde zu ihrer „Papa John"-Filiale, die Fast-Food-Pizza anbietet. 7,50 Dollar bekam Walker, 900 Dollar sind das im Monat. Das sind 25 Cent mehr als der staatliche Mindestlohn, der US-weit gilt. In den USA gibt es schon seit einem Jahrhundert einen Mindestlohn.
Immerhin hat Walker eine eigene Wohnung. „Ich kenne Kollegen, die im Obdachlosenheim schlafen und morgens eine Stunde zur Arbeit fahren, um acht Stunden lang Pizzen über den Tresen zu schieben", erzählt sie im Interview. In New York kostet eine Einzimmerwohnung im Durchschnitt so viel wie ihr Monatslohn. Ihr Arbeitgeber „Papa John" ist ein Pizza-Riese in den USA, eine Franchise-Kette mit einem Umsatz von 1,6 Milliarden Dollar. Der Chef der Kette, John Schnatter, war Anfang des Jahres stolz auf „ein neues Jahr mit Rekordeinnahmen".
Walker fand es nicht fair, wie sie behandelt wurde. Sie traf sich mit anderen Kollegen, denen es genauso ging, und gründete die Gruppe „Fast Food Forward". Walker erzählt, wie sie zuerst mit 200 Fast-Food-Verkäufern demonstrierte – am Ende standen 2012 auf einem großen Platz in New York, dem Union Square, 3.000 Leute zusammen. Sie weiß zu dem Zeitpunkt nicht, ob ihr am nächsten Tag gekündigt wird. Aber es war ihr auch egal: „Wenn du so wenig verdienst, kümmert es dich nicht, wenn du deshalb fliegst."
Viele Angestellte in der Fast-Food-Branche sind nicht in einer Gewerkschaft. So wenig wie Lagerarbeiter, Pfleger oder Reinigungskräfte. Sie arbeiten oft allein oder in kleinen Einheiten. Gewerkschaften, die es gewohnt sind, große Gruppen in Fabriken oder Büros zu organisieren, haben bei Dienstleistern einen schweren Stand.
Auch in Deutschland wächst die Dienstleistungsbranche, aber es sind vor allem schlecht bezahlte Jobs. Onlinehandel, Kuriere, Pfleger, Reinigungskräfte. Es sind dieselben Branchen wie in den USA, in denen oft nicht mehr oder sogar weniger als die gesetzliche Untergrenze von 8,84 Euro für Deutschland bezahlt wird. Aber was ist, wenn diese Untergrenze nicht ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu bezahlen? Der Kampf in den USA zeigt, wie um eine Erhöhung des Mindestlohns gestritten wird, wenn er einmal eingeführt wurde.
Wenn der Mindestlohn nicht zum Leben reicht
Viele Arbeitgeber in den USA wehren sich. Als „unstillbaren Hunger" bezeichnet Bill Rennie, Vertreter des Einzelhandelsverbandes im Bundesstaat Massachusetts, die Forderungen nach höheren gesetzlichen Lohngrenzen. „Wir hatten dieses Jahr erst eine Erhöhung auf elf Dollar. Jetzt sollen es 15 werden. Wo soll das aufhören?", fragt er. Es sei ein Desaster für die kleinen Läden, die schon mit dem Onlinehandel kämpfen müssten. Die Mindestlohn-Gegner führen oft an, dass kleine Betriebe die Lohnkosten nicht mehr zahlen könnten. Was Rennie nicht sagt: Die Onlinehändler, mit denen Läden konkurrieren, zahlen ihren Lagerarbeitern mit die schlechtesten Löhne und können deswegen ihre Preise drücken.
Auch die Politik tut sich schwer. Im Senat von Massachusetts ist der Demokrat Paul Brodeur der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit. Er ist eher zurückhaltend. „Grundsätzlich halte ich das für eine gute Idee", sagt der Senator. In Massachusetts gelten die Demokraten, die dort traditionell die Mehrheit haben, als konservativ. Aber Brodeur fürchtet den Aufstand der lokalen Wirtschaft. Er würde die Lohnfindung am liebsten dem Markt überlassen.
Doch es geht auch anders. In Seattle, auf der anderen Seite der USA am Pazifik, lebt der Milliardär Nick Hanauer. Er ist einer der ersten Amazon-Investoren und ein
Gewinner des Internetbooms. Mittlerweile hat er seine Amazon-Anteile verkauft, investiert seine Milliarden in Start-ups von Onlinediensten bis neue Energien. Und kämpft für den Mindestlohn.
Er sieht sich selbst als Vorkämpfer der neuen Arbeiterbewegung. Weil die Politik in Washington die Verkäufer, Lagerarbeiter, Pflegekräfte seit Jahren hängen lässt, zieht Hanauer von Stadt zu Stadt, von Bundesstaat zu Bundesstaat, um für einen zufriedenstellenden Mindestlohn zu werben. „Für die Firmen gibt es immer einen Grund, nicht zu bezahlen." Um die in Washington regierenden Republikaner kümmert er sich nicht, denn sie sind es, die eine Erhöhung seit Jahren blockieren. Weil sie wollen, dass sich der Staat aus der Wirtschaft raushält.
Hanauer hat eine einfache Theorie: „Wenn die Löhne raufgehen, wird auch mehr gekauft. Das hilft am Ende allen." Hungerlöhne zu bezahlen, sei kurzsichtig und sozialer Sprengstoff, sagt Hanauer. Hanauer finanziert „15 Now", eine Kampagne, die genauso wie der „Fight for 15" für einen Mindestlohn von 15 Dollar wirbt. Mehrere Bundesstaaten, vor allem die wirtschaftsstarken, haben mittlerweile das Ziel angepeilt, einen Mindestlohn von 15 Dollar schrittweise zu erreichen. 19 Staaten haben den Lohn in den letzten fünf Jahren schon ein wenig angehoben. In Kalifornien gelten die 15 Dollar ab 2022. Bald könnte das auch im Bundesstaat Massachusetts so sein.
Schlechter Lohn, schlechte Pflege
Annie Bell ist eine Pflegerin aus Boston, Massachusetts. Die 79-Jährige arbeitet immer noch, weil ihre Rente, die sie für ihre Arbeit in einer Gelatinefabrik erhält, nicht reicht. An einem Spätsommertag hat sie 100 selbstgemachte Gelatinepuddings in der Küche stehen. „Für die Kinder in der Nachbarschaft. Der Zusammenhalt in unserem Häuserblock ist wichtig." Boston ist ein teures Pflaster, Bell wohnt hinter einer Autobahn im Stadtteil Roxbury.
Sie ist bei einem Hauspflegedienst angestellt und kümmert sich um eine 75-jährige Frau, die allein zu Hause lebt. Morgens hebt die Pflegerin die vier Jahre jüngere Frau aus dem Bett in den Rollstuhl, wäscht sie, kauft ein, fährt mit ihr zum Arzt, legt sie mittags wieder ins Bett. Dann übernimmt eine Kollegin. „Ich will nicht nur pflegen, ich will auch da sein für meine Patientin. Aber die Arbeit ist körperlich sehr anstrengend."
Für die Arbeit bekam sie sogar etwas mehr als den Mindestlohn, exakt 10,48 Dollar pro Stunde. Weil Bell das ungerecht fand, ging sie zur Gewerkschaft SEIU. Das ist die Dienstleistungsgewerkschaft, die die Forderungen der „Fight for 15" Gruppen sichtbar und populär gemacht macht. Im ganzen Land entstanden unter dem Namen „Fight for 15" Gruppen, die aus unterschiedlichsten Lagern zusammenkamen, neben der Gewerkschaft vor allem aus Kirchenvereinen und Verbraucherorganisationen. Bell organisierte innerhalb der SEIU eine Gruppe von Pflegern. Sie haben erreicht, dass Pfleger in Boston ab kommendem Jahr 15 Dollar pro Stunde bekommen. Weil Bell schon Rentnerin ist, kommt es ihr beim Arbeiten nicht auf jede Minute an. Sie sitzt auch mal länger mit ihrer Patientin zusammen. „Ich kenne viele Pfleger, die noch einen zweiten Job haben, die müssen dann weiterhetzen". Oft hören Pfleger nach zwei Jahren wieder auf, weil sie das nicht mehr schaffen. Am Ende werden die Alten schlecht gepflegt, weil die Pfleger schlecht bezahlt werden.
Die ungleichen Löhne spalten die Gesellschaft immer mehr. Auf der einen Seite die satten Gehälter der Tech-Branche, Banker und Anwälte, die sicheren Beamtengehälter, die regelmäßigen Lohnsteigerungen bei Facharbeitern. Zumindest dort, wo Gewerkschaften verhandeln. Dort die Unterschicht, denen man in den USA nicht viel mehr als sieben Dollar zahlen muss. Mit dem Mindestlohn kommen Amerikaner im Jahr nicht über 10.000 Dollar. Und das trotz Acht-Stunden-Tag. 50 Millionen Amerikaner gelten als arm. Die Hälfte von ihnen hat nicht mehr als 7.000 Dollar im Jahr zur Verfügung. Ihnen versucht Trump einzureden, dass der Welthandel schuld an ihrer Misere ist und nicht die Arbeitsbedingungen in den USA.
Die USA sind nicht gerade für ihr Sozialsystem bekannt. Die drei – Shantel Walker, Annie Bell und Nick Hanauer – stellen einiges auf den Kopf. Trotz Trump. Oder vielleicht auch gerade gegen Trump. Die Forderung nach den 15 Dollar Mindestlohn ist zurzeit das politische Projekt, auf das sich viele Amerikaner einigen können. Die demokratische Partei sucht nach der verlorenen Präsidentenwahl nun ihre Richtung. Der Senator Bernie Sanders, der als Linker nur knapp gegen Hillary Clinton im Vorwahlkampf verloren hat, fordert 15 Dollar. Vor ein paar Monaten beschloss die Parteiführung in Washington, die Forderung in ihr Programm aufzunehmen.
Die Botschaft ist angekommen
Dieser Kampf könnte der Beginn einer neuen Strategie der Opposition sein: Wenn Reformen in Washington nicht möglich sind, dann eben von Stadt zu Stadt oder Staat zu Staat. Die Kampagnen für den Mindestlohn zeigen, dass jetzt progressive Projekte auf der lokalen Ebene verwirklicht werden – an der US-Regierung vorbei.
Nur was ist das richtige Maß? In Deutschland setzt sich alle zwei Jahre eine siebenköpfige Kommission aus Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Wissenschaftlern zusammen. In der letzten Runde kam eine Steigerung um 34 Cent heraus. Für Pflegekräfte gelten etwa 11 Euro. Reicht das, während die Wirtschaft wächst und die Gewinne der Firmen steigen? Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis für die richtige Höhe. Für Shantel Walker war 15 eine gute Zahl, für die sie eintreten konnte. Für die Kampagne „Fight for 15" ist die Zahl ein deutliches Signal, dass Menschen aus der Armut kommen sollen. Am Ende ist es eine politische Entscheidung, wie hoch der Mindestlohn angesetzt wird.
Die Gewerkschaft SEIU tritt für Verkäufer, Pfleger und Lagerarbeiter ein. Ihr Chef in Boston, Harris Gruman, sagt, dass es Zeit für 15 Dollar sei. „Dann sind wir auf einem anständigen Niveau." Von dort könne man die Erhöhung in Zukunft automatisch an die Inflation anpassen, sagt Gruman.
Für 2018 planen Gewerkschaft und Bürgerbewegungen einen Bürgerentscheid in Massachusetts. Bei einem Erfolg kämen die 15 Dollar auf die Tagesordnung des Parlaments. Das dürfte die konservativ eingestellten Demokraten in Massachusetts ins Schwitzen bringen. Denn die Demokraten haben es ja jetzt im Programm.
Vor allem: Die Wirtschaft schafft selbst Fakten. Im September kündigte Target, der zweitgrößte Discounter der USA mit einem Umsatz von 73 Milliarden Dollar und über 300.000 Mitarbeitern, an, seinen Mindestlohn auf 15 Dollar anzuheben. Selbst die Händlerlobbyisten dürften von dieser Nachricht überrascht gewesen sein. Die Botschaft von Shantel Walker ist angekommen.
Die Pizza-Verkäuferin Walker hat ihren Job nicht verloren, weil sie auf eine Demonstration ging. Sie arbeitet immer noch bei Papa John. Mittlerweile für 12 Dollar. „Das hilft, um aus der Armut zu kommen", sagt sie. Und bald werden es 15 Dollar sein. Denn nachdem sie vor dem versammelten Stadtrat New Yorks stand, als Vertreterin der Fast-Food-Arbeiter, und sagte „Jetzt erzähle ich Ihnen mal, wie es den Arbeitern geht", hat die Stadt tatsächlich einen Mindestlohn von 15 Dollar beschlossen. Er soll ab 2019 gelten.