„Eine ganz schlechte Idee, jetzt eine Wohnung zu suchen!“ Das ist die Erfahrung derjenigen, denen nichts anderes übrig bleibt. Denn der Berliner Markt ist so eng wie nie zuvor. Das nutzen viele Anbieter aus. So haben es Clara und Thomas erlebt – und es knapp geschafft. „Aber das Gefühl, Spielball zu sein, steckt einem noch länger in den Knochen.“
Ssssssst! – Clara fühlte das Damoklesschwert regelrecht auf ihren Nacken herabsausen: Relativ unvermittelt war das Aus für ihre Dreier-WG gekommen, nach beinah 20 Jahren. Und während die beiden anderen schon wussten, wo sie hinziehen wollten, hatte Clara ein Problem: All die Jahre war sie ganz legal Untermieterin ihres einen Mitbewohners gewesen. Wenn der jetzt auszöge, stünde sie ohne Wohnung da.
Ein Jahr zuvor hatten Niederländer das Mietshaus übernommen. Seitdem hagelte es neue Regeln und zahlreiche harsch formulierte Aushänge. Es gab Androhungen sofortiger Kündigungen, Rauswürfe von Leuten, die Jahrzehnte in guter Nachbarschaft gelebt hatten. Die Stimmung im Haus ging den Bach herunter. Wer konnte, ging. Was dahinter steckte, war schnell klar: „Nee, Sie brauchen gar nicht von Ihrem Bekannten zu erzählen, der sucht. Alles wird verkauft“, hatte der Makler erklärt, den Nachbarn im Hausflur angesprochen hatten. Ganz klassisch, so wie es in einer Stadt mit zu wenigen Mietwohnungen gerade nicht sein soll. Keine Chance für Clara.
Ist die Wohnungsnot groß, zählt der Datenschutz wenig
Sechs Monate hatte sie sich ausbedungen, um eine neue Bleibe zu finden. Ein Umzug wollte gut durchdacht sein. Ein Blick in Online-Börsen wie Immobilienscout, Immonet und Konsorten belehrte sie eines Besseren. Planen? Fehlanzeige. Angebote gab es zwar, allerdings viele zu Mondpreisen. Allen gemein waren jedoch Floskeln wie „frei ab sofort“ oder „bezugsfrei ab kommendem Ersten“. „Da gerätst du in eine ganz fiese Lage“, sagt Clara. Wer wenig Geld hat, kann sich keine Doppelmieten leisten, und wer kurz vor dem Rausschmiss steht, nimmt so ziemlich alles.
Zufällig flatterte ihrem Freund Thomas beinah parallel ein Brief der Hausverwaltung in seine kleine Kreuzberger Hinterhof-Remise. Er solle demnächst doppelt so viel zahlen. Ab zur Mieterberatung – und retour mit Wut im Bauch: „Irgendwie war das ein Gewerbemietvertrag, auch wenn ich da gewohnt habe“, erklärt Thomas. Für Gewerbemietverträge gibt es nur wenige Regeln. Die nächste Erhöhung dräute bereits, in seinem rundherum immer hipper, schicker und teurer werdenden Stadtteil. Das ging für ihn nicht.
Glück im Unglück: Keiner von beiden wollte alleine wohnen. Das traf sich gut. Es musste gehen, selbst wenn Thomas lieber in der Nähe seiner Kinder geblieben wäre, die den größeren Teil der Woche in Neukölln leben. Clara arbeitet in Schöneberg und im Norden Berlins. Irgendwo dazwischen wäre sie gern untergekommen. Und bitte nichts mitten in der Stadt, wo man aus der Tür ins Gewusel fällt…
Letzteres wäre ohnehin so gut wie unmöglich gewesen. Wohnungen innerhalb des S-Bahn-Rings – das einzig Wahre für City-Liebhaber und heiß begehrt – sind kaum noch zu finden. Und wenn, dann gerne als aufs Altbau-Dach gepfropftes Penthouse für 14 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter.
Bei der Miete wartete auch schon die nächste Hürde: „Ich weiß nicht, wo die die Zahlen herhaben“, stöhnte Thomas beim Vergleich von Mietspiegel und Realität auf dem Markt. „6,50 Euro im Schnitt – da kannst du doch nur von träumen!“ Rasch war klar: Alles unter zehn Euro kalt bei einer Neuvermietung wäre ein Schnäppchen. Egal, wo in der Stadt. Dazu kamen noch die Nebenkosten, die bei zwar niedriger Kaltmiete, aber eher schlechter Wärmedämmung oft die geringen Grundkosten wieder wettmachten.
Thomas und Clara fielen außerdem in eine Lücke: Beide sind Freiberufler, er verdient wenig, sie normal. Richtig üppig war das zusammengerechnet nicht, setzte man als Maßstab das übliche Drittel des Nettoverdienstes für Miete an. „Wir haben nach gut 70 Quadratmetern und zweieinhalb Zimmern gesucht“, sagt Clara. Schließlich sollten auch die Kinder bei Besuchen Platz für sich bekommen. „Wir wollten möglichst bei um die 1.000 Euro warm bleiben.“ Dass Thomas als Kleinunternehmer einen Wohnberechtigungsschein hatte, half nicht weiter. Sie verdiente zu viel, der Anspruch auf eine günstige kommunale Wohnung fiel also weg. „Knapp über den geförderten Mieten kommt erst mal gar nichts“, so Claras Erfahrung. „Und zu relativ günstigen Mieten gibt es immer noch zu wenige Angebote.“ Zumindest für dreieinhalb Millionen Berliner.
Stunde um Stunde saßen die beiden über Online-Angeboten, klapperten Sammel-Internetseiten ebenso ab wie die von Immobilienanbietern oder städtischen Wohnungsbaugesellschaften, von Genossenschaften, Bezirksämtern und privaten Anbietern. Immer wieder lasen sie „zurzeit leider keine Angebote verfügbar“ oder „Wir hatten nach zwei Stunden über 300 Bewerber und können niemanden mehr berücksichtigen“. Oder die Angebote waren von den Seiten der Immobilienunternehmen einfach nach kurzer Zeit bereits wieder verschwunden. Was auch immer sie taten – anfangs kam überhaupt keine Antwort auf ihre Anfragen. Zu spät, zu langsam reagiert – die beiden mussten erst einmal lernen, wie alles funktioniert.
An die Stelle der Wunschwohnung trat bald ein Katalog von Mindestanforderungen: eine Küche mit Platz für einen Esstisch. Gute Verkehrsanbindung mit S- oder U-Bahn. Und Claras Wunsch, den sie sich rasch schon gar nicht mehr zu äußern traute: ein Balkon, „sonst geh ich im Sommer ein wie eine Primel!“ Gestrichen wurden Träume wie Altbau, ruhiges Hinterhaus, womöglich sogar ein Garten. Immer wieder stellte sich die Frage: Was darf ich mir wünschen? Was geht wirklich nicht? Wie viel darf ich mir wert sein?
Parallel zur Suche ging es ans Unterlagen-Zusammenstellen: Vermieter wollen Sicherheiten. Verständlich. Nachzuweisen durch einwandfreie Schufa-Auskünfte, Arbeitsvertrag oder Einkommensnachweise des vergangenen halben Jahres und Mietschuldenfreiheitsbescheinigungen der bisherigen Vermieter. All das kann man bei den einschlägigen Online-Portalen hochladen, dann haben potenzielle Vermieter gleich den Zugriff. „Dazu waren wir dann doch zu vorsichtig. Wer weiß, wo die Daten irgendwann landen“, meint Clara. „Wir haben lieber in unserer Anfrage versprochen, die üblichen Unterlagen zum Besichtigungstermin mitzubringen.“ Darüber, dass Datenschützer warnen, solche Informationen nicht frühzeitig zu geben, kann sie nur bitter lachen: „Wer einen Termin ergattert hat, wird den Teufel tun, nicht die Mappe mit allem abzugeben.“
Nach mehr als 20 unbeantworteten Anfragen kam zweieinhalb Monate, bevor sie auf der Straße landen würden, die erste Einladung: „Große Aufregung, schon fast ein Gewinner-Gefühl – wegen einer Besichtigung“, erinnert sich Thomas. Vor einem Altbau in Hörweite der Stadtautobahn sammelte sich gut ein Dutzend Menschen, die einander vorsichtig beäugten – jeder war ein Konkurrent.
Fettflecken und schimmliger Teppich
„Diese erste Wohnung wäre ein Traum gewesen“, sagt Thomas. Vor allem gehörte sie einer aussterbenden Art an, wie sich rasch herausstellte: Fast immer wird auf Einheitsstandard durchrenoviert, um eine höhere Miete verlangen zu können. Diesmal aber hatten die Wände, Türen und Böden Macken vom Vormieter. Der Besitzer wollte sich nicht kümmern, sagte der Makler. Die Miete war gerade noch im Rahmen. Aus diesem ersten Traum wurde nichts, innerhalb des nächsten Monats sollten 14 weitere Vor-Ort-Termine folgen – die Ausbeute von gut fünfmal so vielen Anfragen. Allmählich hatten die beiden den Dreh heraus. „Aber um welchen Preis!“, sagt Clara. Jeden Tag vor dem Computer bis gegen Mitternacht, tagsüber womöglich eine Besichtigung und dann lange in die Nacht hinein die liegengebliebene Arbeit in Doppelschichten nachholen. Auch die Termine selbst kosteten Kraft. Jeder war anders. Beide gewöhnten sich an, eine halbe Stunde vorher vor Ort zu sein, um die Gegend zu erkunden: Gibt es Läden, Nahverkehr, vielleicht sogar Spielmöglichkeiten für die Kleinen? Könnten wir hier leben? Immer neue Stadtviertel, immer der Versuch, sich einzustellen auf Unbekanntes. Und dann, innerhalb der potenziellen neuen vier Wände: Wie fühlt sich die Wohnung an? Können wir sie für uns aufteilen, ginge das?
Viele der günstigeren Angebote lagen an Hauptverkehrsstraßen, von Lichterfelde im Süden bis hinauf nach Weißensee. Manche so laut, dass man bei geöffnetem Fenster die Erklärungen des Maklers kaum verstand. Auffällig war: Private Anbieter kümmerten sich meist wirklich um ihre Wohnungen, waren persönlich zugewandter. Anders einige Male bei großen Immobilienanbietern: Clara und Thomas standen einmal zwischen 20 anderen im Erdgeschoss eines 50er-Jahre-Blocks am Stadtautobahnkreuz in einer komplett unsanierten Wohnung, im Schlafzimmer Reste verblichener Original-Blümchentapete an der Wand. Über dem Abdruck vom Bettgestell ein von fettigen Haaren über Jahre verschmierter Fleck. Aufgerollte Böden mit Resten des Teppichboden-Rückens, an einer Ecke wegen des Schimmels von einem verbogenen Kleiderbügel hochgedrückt zum Lüften.
„Das wird alles noch gemacht“, versprach die Maklerin. „Hat sich ein bisschen verschoben, zum 19. kommenden Monats sollten wir fertig sein.“ Mietbeginn laut „Vordruck zur Interessensbekundung“: vor diesem Termin, am 15. Der Küchenherd war so speckig, dass die Maklerin die Abdeckung mit spitzen Fingern anhob. Sie wusste nicht, ob mit Gas oder Elektro gekocht wurde und musste nachsehen. „Küche wird auch ganz neu!“ So, dass ein Küchentisch mit hineinpasst? „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“ „Ein echtes Erlebnis der dritten Art. Da fragst du dich: Unterschreiben für etwas, das man sich vorher überhaupt nicht ansehen kann?“, beschreibt Thomas das Dilemma. Clara und Thomas waren zu diesem Zeitpunkt schon so niedergedrückt, dass sie überlegten, doch den Bogen auszufüllen. Sie ließen es bleiben. Sie wollten sich nicht schon vor dem Einzug wie Dreck behandeln lassen, und das noch für viel Geld.
Schöne Überraschungen warteten hingegen an ungeahnten Orten: So verlieben sich beide spontan in eine Wohnung von privat und in das Drumherum in Oberschöneweide, direkt am Spreeufer. „Spinnt ihr, so weit draußen?“, hatten Freunde gefragt. „Guck doch mal auf den Plan“, hatte Clara geantwortet. „Das ist zwei Stationen nach dem Ring, das ist nicht weit!“ Als schließlich die Absage kam – ganz knapp gegen sie, hieß es, dabei hatten sie so ein gutes Gefühl gehabt –, war Trauer angesagt. Der innere Stadtplan verschob sich mit jeder Besichtigung: Nicht die Lage war wichtig, sondern die Anbindung. Lichterfelde ist nur zwölf Minuten mit der S-Bahn von Schöneberg entfernt, Überraschung! Dass es sich anfühlte wie auf einem anderen Planeten, war eine andere Sache.
Nach jeder Besichtigung ging es bei einem Kaffee an die Auswertung: Oft darum, was wieder wegfiel an Gewünschtem – oder seltener – dazu kam. „Wir waren Spielball des Wohnungsmarkts“, fasst Thomas zusammen. „Wir waren ausgeliefert, kamen auch finanziell gegen Leute mit Festanstellung, die sich auf dieselbe Wohnung bewarben, nicht wirklich an.“
Das Schlimmste sei, dass Mieter oft nicht als Geschäftspartner auf Augenhöhe gesehen würden, obwohl sie für eine Leistung zahlten. „Wir kamen uns vor wie Bittsteller.“ Das Unterlegenheitsgefühl wuchs, der Auszugstermin rückte immer näher. Keiner von beiden schlief noch gut. Nebenher packten sie auf Verdacht ihr Leben in Kisten – wofür? Um wohin zu ziehen?
Ohne Not umziehen: „Lasst es bleiben!“
Irgendwann auf dem Weg zur Arbeit klingelte Claras Smartphone in der S-Bahn. Ein freundlicher Herr meinte, sie hätten bei ihm um einen Termin nachgefragt. Clara bat, ihr Datum und Adresse zu mailen, ohne überhaupt zu wissen, worum es ging. Zwei Tage später stand sie mit Thomas in Mariendorf vor einem Altbau. Keine Mitbewerber? „Ich mache nur Einzeltermine“, erklärte der Makler, die Stimme vom Telefon. „Ich soll mir für die Besitzer ein Bild machen und eine Empfehlung geben. Das kann ich nicht, wenn mehrere auf einmal da sind.“ So etwas hatte es noch nicht gegeben: jemand, der sich um sein Gegenüber kümmert. Die Wohnung war schön, die Miete machbar, die Nachbarschaft schien angenehm. Dieses Mal trog das Gefühl nicht: Zwei Wochen später hatten die beiden einen Mietvertrag mit einem freundlichen Ehepaar, das selbst im Haus wohnt. Unterschrieben bei Kaffee und Kuchen, einen halben Monat vor dem „Auf-der-Straße-Stehen“. Verdammt knapp.
„Wir werden uns schon wieder erholen“, meint Clara drei Wochen später zwischen Kisten und Kästen in der neuen Wohnung. Noch sind die Sorgenfalten tief, und Augenringe zeugen vom Umzugsstress. „Ich kann nur allen raten, die derzeit ohne Not überlegen umzuziehen: Lasst es bleiben! Das ist keine gute Idee.“ Sie haben sich fest vorgenommen, es sich jetzt besonders schön zu machen am neuen Ort. Auch die Kinder waren bereits ein erstes Mal da – und haben sich wohlgefühlt.