Die Politik schottet sich von der EU ab, die Wirtschaft öffnet sich
Als Polen, Ungarn und Tschechien am 1. Mai 2004 der EU beitraten, wurden in Warschau, Budapest und Prag Feuerwerksraketen in den Himmel geschossen. Endlich – nach Jahrzehnten sowjetsozialistischer Bevormundung – gab es die Eintrittskarte für Wohlstand, Freiheit und Rechtsstaat, hofften dort viele.
Knapp 14 Jahre danach ist die überschäumende Begeisterung verflogen. Die Euro-Befürworter von einst schotten sich ab. Die Pläne von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern und mehr Gelder dorthin abzuführen, sind ihnen ein Dorn im Auge.
Vor allem bei der Flüchtlingspolitik zeigt sich der Osten unbeugsam: keine Migranten, keine Ansiedlung von Muslimen, da islamische und christliche Kultur nicht kompatibel seien, heißt es. Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel verfochtene gerechtere Verteilung in Europa gilt als Teufelszeug. Presse- und Meinungsfreiheit werden eher als Störung des gesellschaftlichen Friedens denn als Lebenselixier der Demokratie wahrgenommen.
Neuestes Beispiel dieses Rechtsrucks sind die Präsidentschaftswahlen in Tschechien. Am vergangenen Samstag setzte sich der populistische Amtsinhaber Milos Zeman – wenn auch knapp – gegen den Quereinsteiger Jiri Drahos durch. Im Wahlkampf hatte Zeman massiv Ängste vor Flüchtlingen und besonders vor muslimischen Zuwanderern geschürt. Mit dem Spruch „Stoppt die Immigranten und Drahos“ gingen Warnungen vor einer Willkommenskultur wie in Deutschland einher.
Der Präsident hat zwar keine starken exekutiven Befugnisse. Aber er repräsentiert das Land nach außen und spielt eine wichtige Rolle bei der Regierungsbildung. Die ist in der gegenwärtigen tschechischen Kabinettskrise höchst relevant. Denn Zeman hat eine Allianz mit dem rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Andrej Babis. Der Milliardär musste nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung vor anderthalb Wochen zurücktreten. Doch Zeman erteilte ihm sofort den Auftrag, ein neues Regierungsteam zusammenzustellen.
Weil derzeit wegen EU-Subventionsbetrugs gegen Babis ermittelt wird, will keine andere Parlamentspartei aus dem demokratischen Spektrum mit ihm koalieren. In Prag wird befürchtet, dass Babis nun seine Fühler zu den Kommunisten oder Rechtsextremen ausstreckt. Distanz zur EU, auf Eingrenzung abzielende Flüchtlingspolitik sowie härtere Bandagen gegen politische Opposition und freie Presse: Der tschechische Regierungschef befindet sich im gleichen Fahrwasser wie seine Amtskollegen Viktor Orban in Ungarn sowie Mateusz Morawiecki in Polen.
Der Osten driftet ab und pocht immer mehr auf seine eigene Identität. Nach dem Fall der Mauer 1989 kam es zu einer Renaissance der nationalen Souveränität, ein Reflex gegen die kommunistische Fremdbestimmung. Dann schielte man nach Brüssel und träumte vom besseren Leben unter den Fittichen der EU. Das war mit mehreren Frustrationserfahrungen verbunden: Der Prozess der Anpassung von der sozialistischen Plan- zur Marktwirtschaft führte zu hoher Arbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen. Fachkräfte verließen massenweise das Land Richtung Westen.
Gleichzeitig wurden die Vorgaben der EU im Zuge des Beitrittsprozesses als neue Form der institutionellen Einmischung begriffen. Was früher Moskau war, ist heute Brüssel, lautete ein häufiger Vorwurf. In dieser psychologischen Abwehrhaltung liegt das Nein zu einer immer mächtiger werdenden Euro-Bürokratie begründet.
Im Osten ist ein erstaunliches Paradox zwischen Politik und Wirtschaft zu beobachten. Während die Regierungen eine nationale Linie einschlagen, haben sich die Firmen internationalisiert und modernisiert – über die Arbeitsteilung, die Digitalisierung, durch Normen- und Rechtssetzung auf EU-Ebene. Mittel- und Osteuropa sind derart eng mit westlichen Konzernen wie Daimler oder VW verflochten, dass sie sich im Einklang mit deren Erfolg entwickeln. Das Wachstum der östlichen EU-Staaten ist doppelt so hoch wie in der Eurozone. Schulden und Arbeitslosigkeit sind geringer. Die Börsen boomen.
Das macht Mittel frei für soziale Wohltaten. Populistische Spitzenpolitiker sorgen für höhere Gehälter, Mindestlöhne und Renten. Was im Westen befremden mag: Der Osten lebt ziemlich gut mit einer offenen Wirtschaft, die von nationaler Politik flankiert wird.