Arbeiten Menschen noch, wenn sie ohne Gegenleistung einen Betrag vom Staat bekommen? Das bedingungslose Grundeinkommen wird mittlerweile in verschiedenen europäischen Staaten in Studien getestet – so auch in Frankreich, wo es Armut bekämpfen soll.
Am bedingungslosen Grundeinkommen scheiden sich die Geister: Für die einen wäre es die größte Errungenschaft im Sozialstaat, für die anderen der Gau in puncto Motivation und Leistungsbereitschaft. Dabei gehen die Meinungen quer durch alle Bevölkerungsschichten auseinander. Selbst namhafte Unternehmer könnten sich mit dem Grundeinkommen anfreunden.
Sicher Monat für Monat über die Runden zu kommen, das klingt auf den ersten Blick verlockend. Alleine die Sozialausgaben in Deutschland betrugen 2016 nach dem Sozialbericht der Bundesregierung über 900 Milliarden Euro. Eine gigantische Umverteilungsmaschinerie, aus der letztlich auch das bedingungslose Grundeinkommen gespeist werden müsste. Während Deutschland sich sehr zögerlich bei diesem Thema gibt, haben unsere französischen Nachbarn Nägel mit Köpfen gemacht und ein Pilotprojekt zum bedingungslosen Grundeinkommen gestartet. In zwölf Départements soll es getestet werden, eines davon ist Meurthe-et-Moselle in Lothringen. Wie das bedingungslose Grundeinkommen eingeführt werden soll, welche Ziele die Politik damit verfolgt und wer es überhaupt beziehen darf, darüber sprach FORUM mit Mathieu Klein. Er ist seit April 2014 Präsident des Generalrats im Département Meurthe-et-Moselle und gehört der sozialistischen Partei (PS) an.
Herr Klein, wie sind in Frankreich die gesetzlichen Voraussetzungen, um das bedingungslose Grundeinkommen einzuführen? Die soziale Gesetzgebung ist doch national geregelt und nicht kommunal.
Das ist richtig. Wir dürfen als Département nicht einfach in die nationale Gesetzgebung eingreifen, wenn die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Deshalb fordern wir in den Départements eine Gesetzesinitiative. Emmanuel Macron hat bereits Handlungsbereitschaft signalisiert und will die französische Verfassung dahingehend reformieren, dass wir das Recht bekommen, auf lokaler Ebene experimentieren zu dürfen oder probeweise Gesetze einführen können. Schließlich handelt es sich beim bedingungslosen Grundeinkommen um einen Versuch.
Und wie soll der aussehen?
Die Einführung erfolgt in drei Etappen. Die erste startete Anfang des Jahres. Gemeinsam mit dem Wirtschaftsforschungsinstitut IPP erstellen die Départements eigene Studien, inwieweit das derzeitige soziale System überhaupt in der Lage ist, Armut zu bekämpfen und Privathaushalte aus dieser prekären Situation herauszuholen. Außerdem sollen Umverteilungseffekte für bestimmte Zielgruppen untersucht werden, so als wäre das bedingungslose Grundeinkommen bereits eingeführt.
Der zweite Schritt wäre die Vorbereitung der Gesetzesinitiative, die uns Experimente dieser Art ermöglicht. Dabei wird es auch darum gehen, die soziale Mindestabsicherung in dem jeweiligen Département zu berücksichtigen und anzupassen. Der dritte Schritt betrifft die Umsetzung. Derzeit stehen wir ganz am Anfang.
Wie sieht die Armutslage derzeit in Frankreich aus?
Die ist unerträglich. Neun Millionen Franzosen sind auf staatliche Hilfen angewiesen, von denen fünf Millionen unter der Armutsgrenze leben. Armut betrifft übrigens auch Menschen, die arbeiten. Viel schlimmer ist allerdings, dass jedes fünfte Kind in Armut aufwächst. Es ist uns nicht gelungen, mit dem sozialen Netz, das wir vor 30 Jahren mit der jetzigen Sozialhilfe eingeführt haben und vor zehn Jahren um die Mindestabsicherung erweitert haben, die Armut entscheidend einzudämmen.
Wie sieht es im Département Meurthe-et-Moselle aus?
161 Millionen Euro stehen im Budget des Départements für die soziale Mindestsicherung zur Verfügung. Rund 30 Prozent der Menschen, die Anspruch auf soziale Unterstützung haben, nehmen sie noch nicht einmal in Anspruch. Und die jungen Menschen zwischen 18 und 25 Jahre, auf Unterstützung angewiesene Landwirte, Personen, die sich um ihre Angehörigen kümmern, Saisonarbeiter, sie alle werden gar nicht mitgezählt. Unser derzeitiges Sozialsystem ist nicht in der Lage, die Armut zu bekämpfen. Das wollen wir zunächst in den zwölf Départements versuchen zu ändern.
Wer würde vom bedingungslosen Grundeinkommen profitieren?
Uns ist sehr wohl bewusst, dass die Mindestsicherung oft nicht ausreicht, um adäquat über die Runden zu kommen. Betroffen sind vor allem Bezieher, die beispielsweise ein Kindermädchen brauchen, in Schicht arbeiten, Alleinerziehende oder Arbeitnehmer, die sehr weit zu ihrer Arbeitsstelle fahren müssen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist für alle bestimmt, die durch das soziale Netz fallen. Es bietet zudem gute Möglichkeiten, wieder einen regulären Job zu bekommen. Unserer Meinung nach müssten die Tarife degressiv gestaffelt sein für arme Menschen ohne Arbeit oder arme Menschen mit Arbeit, deren Jobs allerdings unsicher sind, die nur in Teilzeit arbeiten oder saisonal beschäftigt sind. Das bedingungslose Grundeinkommen wäre eine zusätzliche Leistung im Kampf gegen jegliche Form von Armut.
Wie wollen Sie Menschen motivieren zu arbeiten, wenn der Arbeitslohn nach Abzug aller Steuern und Abgaben nur wenig über dem bedingungslosen Grundeinkommen liegt?
Das ist in der Tat die wohl schwierigste Frage. Die Vorurteile halten sich hartnäckig, und wir sollten ehrlich und offen über die soziale Gerechtigkeit in diesem Land diskutieren. Die probeweise Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens in den Départements soll zur Aufklärung und zu den Auswirkungen auf die Arbeit beitragen. Erfahrungen aus anderen Ländern werden ebenfalls einfließen.
Wer soll das alles bezahlen?
Die Studie wird aus den Budgets der Départements bezahlt. Die aufgeteilten Kosten pro Département sind gering. Zurzeit wäre es im Versuchsstadium allerdings verfrüht, über die Gesamtkosten zu spekulieren. Allerdings betreffen die steigenden Sozialausgaben alle Départements, nicht nur die zwölf. Wir können und dürfen nicht tatenlos zusehen, wie immer mehr Menschen von Armut betroffen sind. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Aber noch einmal unabhängig von Vorurteilen oder festgefügten Meinungen: Das Ganze ist ein Experiment, denn wir wollen die Möglichkeiten und Grenzen des bedingungslosen Grundeinkommens ausloten und Stellschrauben ausfindig machen, der zunehmenden Armut entgegenzuwirken. Wir wollen ein Einkommen, das für die Menschen auskömmlich ist, den sozialen Ansprüchen gerecht wird und die Autonomie der Menschen stärkt.