Schlager führen zu „Abschalteffekten“. Das sagt zumindest der MDR Thüringen: Der Sender hat schon im Jahr 2012 deutsche Schlager aus dem Tagesprogramm gestrichen. Auf anderen Sendern läuft weiterhin deutschsprachige Musik. In Thüringen regt sich Widerstand gegen die Programmpolitik. Und es gibt Unterstützung nicht nur von Musikverbänden.
Die klatschen zu „Da steht ein Pferd auf dem Flur“, singen begeistert mit „Du kannst nicht treu sein“, schunkeln Arm in Arm bei „Am Aschermittwoch ist alles vorbei“: Die Festhallen und Kneipen sind voller Karnevalsjecken, von denen jeder die Karnevals-Schlagerparade rauf und runter auswendig kennt. Ein Fest! Vielleicht gerade auch, weil es sonst nicht mehr allzu viel mitzusummen und mitzugröhlen gibt, wenn man das Radio einschaltet?
So richtig viel deutschsprachige Musik schallt da tatsächlich nicht ins heimische Wohnzimmer, das zeigt ein Blick in die Songlisten einiger Sender. Ein Ding der Unmöglichkeit, dass so wenig Muttersprachliches vorkommt, das sagen zumindest einige unserer Nachbarn: So sind in Frankreich Radiostationen zum Schutz der einheimischen Kultur und Sprache sogar verpflichtet, rund 60 Prozent ihrer Sendezeit Produktionen europäischer Künstler zu widmen – und die restlichen 40 Prozent mit französischen Interpreten zu füllen. Mit einschneidenden Folgen: Englischsprachige Künstler wie Kylie Minogue und Elton John nehmen manche Titel extra auf Französisch auf, um eher im Radio gespielt zu werden. Ist eine solche Quote in Deutschland nötig und denkbar?
Schlagerfans hören wieder „Westradio“
Beides, meinen offenbar vor allem ältere Hörer in Thüringen: Sie beklagen die Übermacht englischer Musik in ihrem „Heimatsender“ MDR. Ihnen fehlen die deutschen Schlager – kein Wunder, die hat der MDR nämlich 2012 aus seinem Tagesprogramm genommen. Grund für die Umstellung auf vorwiegend englische Titel sei der veränderte Musikgeschmack der Hörerschaft, begründete das MDR-Pressechef Walter Kehr: „Die Generation der über 60-Jährigen hört vorzugsweise Pop und Rock der 60er und 70er Jahre“, so seine Erfahrung. Sie seien vorrangig mit Britpop und US-Importen groß geworden, später auch mit Neuer Deutsche Welle und Austro-Pop.
Die MDR-Musikredakteure achteten deswegen darauf, dass „immer wieder auch Vertreter des Krautrocks, aber auch Westernhagen, Grönemeyer, Maffay oder Karat“ laufen. Das MDR Sachsenradio etwa spiele im Schnitt drei deutsche Titel pro Stunde. Doch wer den MDR Thüringen einschaltet, muss schon Glück haben mit drei deutschen Titeln in der Stunde, zeigt ein Hörversuch. Dagegen regt sich Widerstand, vielen ist das eindeutig zu wenig. Zwar können die Hörer, die nahe genug an der früheren Grenze wohnen, einfach vom Ost- aufs Westradio umsteigen – der hessische Sender HR4 spielt vorwiegend deutsche Schlager. Allerdings muss man dann auf regionale Nachrichten aus Thüringen verzichten. Auch keine optimale Lösung. Außerdem funktioniert das auch nur im Westen des Bundeslandes, bis nach Ostthüringen reichen die hessischen Frequenzen nicht.
In Gera, knapp vor der sächsischen Grenze, schritt der Seniorenverband zur Tat: Als Interessenvertretung wandte er sich vergangenen Herbst in einem offenen Brief an den Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Die Linke) und beklagte, dass der MDR keine deutschsprachigen Schlager mehr spiele. Auch viele Leserbriefschreiber äußerten sich beispielsweise in der „Ostthüringer Zeitung“ ähnlich: Der MDR solle auch Volkslieder und Chöre spielen, wurde gefordert. Die Politiker sollten über ihren Sitz im MDR-Rundfunkrat etwas gegen das Abspielen ausschließlich englischer Lieder tun, sie wünschten sich mehr Abwechslung zwischen deutschen und internationalen Titeln. Auch im „ganz normalen Radio“ über Antenne: Viele Ältere hätten nicht die technischen Möglichkeiten, auf „zielgruppenorientierte Radiosender“ im Internet umzuschwenken, merkte der Seniorenverbands-Vorsitzende Hans-Otto Feuerstein an. Selbst die den Senioren vom Heimatsender empfohlene MDR-Schlagerwelt, ein digital über DAB+ verbreitetes Programm, kann man nicht mit einem normalen Radiogerät empfangen. Dazu müsste man sich extra ein neues Gerät kaufen – die Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Kulturauftrags stellt man sich irgendwie anders vor. „In der Wirtschaft, im Handel und Weiterem ist die Anglisierung bereits weit fortgeschritten. Also bereiten wir unsere Hörer darauf vor, demnächst nur noch Englisch zu sprechen und die deutsche Sprache als Amtssprache abzuschaffen“, schrieb Feuerstein provokant in dem offenen Brief. Besonders bedauerten dessen Unterzeichner, dass der MDR die Musiksendung „100 Prozent Deutsch“ abgesetzt hat.
Das Programm muss mit den Hörern gehen
Der Thüringer MDR-Chef Boris Lochthofen argumentierte dagegen, ein öffentlich-rechtlicher Sender hätte den Auftrag, „Programm für alle relevanten Zielgruppen zu machen“. Natürlich mit Blick auf die Einschaltquoten, an denen der Programmerfolg gemessen wird. Und da steht MDR Thüringen mit 31 Prozent aller Hörer gut da, nämlich auf Platz zwei nach dem NDR in Mecklenburg-Vorpommern. Seine Stammhörer sind im Durchschnitt 59 Jahre alt, ein Wert, der sich seit den 90er Jahren kaum veränderte. Da die 59-Jährigen von heute ganz andere als die von damals sind, sei es eine Herausforderung für Radiomacher, einen „Geschmacks-Kompromiss“ zu finden. „Der klassische deutsche Schlager von Andrea Berg oder Bernhard Brink sinkt seit Jahren in der Beliebtheit bei der Mehrheit unserer Hörer“, heißt es beim MDR. Schlimmer noch: Er würde sehr stark polarisieren und zu „Ausschalteffekten“ führen. „Dasselbe haben wir vor etwa 15 Jahren mit der volkstümlichen Musik erlebt“, so die Erfahrungen. Denn die heute 50-jährigen Hörer seien mit anderer Musik als dem Schlager aufgewachsen und sozialisiert. „Wenn ein Radiosender wie unserer anstrebt, im Durchschnittsalter seiner Hörer zumindest stabil zu bleiben, muss sich das Programm mit seinen Hörern verändern.“ Ein Blick auf die Listen der gespielten Titel im Internet zeigt, was dabei herauskommt: rund 88 Prozent des Musikprogramms läuft auf Englisch, nur elf Prozent deutschsprachig und nicht einmal ein Prozent in einer anderen Sprache. Anderswo macht man entweder andere Erfahrungen oder zieht andere Schlüsse – ein Blick über die Radiolandschaft macht Sinn.
Spannend ist die Argumentation bei Deutschlandfunk Kultur, einem Sender mit einem der höchsten Anteile an nicht-englischsprachiger Popmusik – so die Eigenbeschreibung. Laut Dr. Veronika Schreiegg, die als Redaktionsleiterin auch die Musikplanung verantwortet, spielt der Sender neben englischer Musik rund 35 Prozent seiner Titel „aus Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Skandinavien und vielen anderen Ländern.“ Die Reihenfolge sitzt: An dritter Stelle erst kommt deutschsprachige Musik. Und das, obwohl der Sender „Deutsch“ sogar in seinem Namen führt? „Bei deutschsprachigen Texten haben wir das Problem, dass sie das journalistische Programmumfeld oftmals ungewollt kommentieren. Stellen Sie sich vor, wir berichten über einen Selbstmordattentäter in Israel und im Anschluss daran läuft der Musiktitel ‚17 Millimeter fehlten mir zu meinem Glück’ von Lisa Bassenge. Keinesfalls wollen wir, dass uns ein pietätloser Fauxpas wie der genannte passiert“, so wird der „sensible Umgang mit deutschsprachigen Titeln“ begründet.
Logischerweise fragt man sich: Sind also Hörfunksender in Großbritannien, USA und Australien „unsensibel“? Die dürften ja sonst kaum mehr englischsprachige Musik spielen, damit die Songs nicht unfreiwillig ihre Nachrichten kommentieren. Das machen sie aber nicht. Mal davon abgesehen, dass die Hörerschaft eines Kulturradios womöglich zum großen Teil englische Texte versteht… Hätte Schreiegg Recht, müsste sie also auch englische Titel sorgfältig aussuchen, um keinen „pietätlosen Fauxpas“ zu begehen und könnte genauso gut deutschsprachige Titel spielen. Denen bleiben bei Deutschlandfunk Kultur mit der Tonart-Rubrik „Soundscout“ oder der wöchentlichen Tonart-Nacht „Chansons und Balladen“ nur Nischen.
„Sender missachten ihren Kulturauftrag“
Andere haben weniger Probleme mit deutschen Titeln: Sie machen beispielsweise beim RBB-Sender Antenne Brandenburg 20 bis 40 Prozent aus, so Unternehmenssprecher Justus Demmer: „Peter Fox, Zweiraumwohnung, Silly, Helene Fischer und viele weitere deutschsprachige Künstler“ sind da zu hören „und werden keineswegs vernachlässigt.“ Bei „radioBERLIN 88,8“ spielt „Deutsche Vita“ am Mittwochabend ausschließlich Deutsches und stellt Nachwuchskünstler vor, ebenso wie die Hörer-Hitparade „Hey Music“ – man kommt auf etwa 20 Prozent deutsche Titel. Der viel gehörte Sender Radioeins spielte 2017 im Tagesprogramm ganze sechs Prozent deutschsprachige Titel. Er bringt laut Justus Demmer alternative deutsche Künstler, die man sonst nicht hört, wie Balbina, Der Plan, Tomas Tulpe, Husten oder Isolation Berlin.
Und von wegen Senioren: Bei der Jugendwelle Fritz laufen 25 bis 30 Prozent deutschsprachige Titel. Und seit 2010 präsentiert Fritz mit den „Deutschpoeten“ jeden Sommer ein Festival mit ausschließlich deutschsprachigen Künstlern. Die Argumentation läuft komplett anders als beim Thüringer MDR oder beim Deutschlandfunk Kultur: Die Frage nach einer Quote für einheimische Musik stelle sich beim RBB nicht, „weil sie der Nutzungsgewohnheit des Publikums nicht mehr gerecht wird.“ Musik jeglicher Ausprägung sei heute umsonst oder preiswert für jeden individuell beziehbar. Auch die Künstler seien dank Internet ja nicht mehr aufs Radio angewiesen. Könnte man also nicht doch gleich eine Quote wie in Frankreich einführen? Da gehen die Emotionen hoch: Laut Walter Kehr vom MDR würde eine Quote wie in Frankreich „zu einer Verarmung des Angebots bei uns führen“. Er argumentiert, dass dann Größen von Edith Piaf über Charles Aznavour bis zu Adriano Celentano unbekannt wären. Ramstein dürften nicht ihr ‚We all live in America‘ singen oder Marlene Dietrich ‚Falling in Love again‘. Kehrs Fazit: „Wäre schade drum.“
Der Deutsche Rock & Pop Musikerverband DRMV mit 20.000 Mitgliedern aus allen möglichen Sparten sieht die Situation ganz anders, ebenso die Deutsche Popstiftung mit Persönlichkeiten wie Heinz Rudolf Kunze, Juliane Werding oder Ralph Siegel. Ole Seelenmeyer vertritt beide Interessengemeinschaften. Und er sagt, die Redakteure der Öffentlich-rechtlichen wetteiferten mit den Privaten um Einschaltquoten und Reichweiten und kopierten deswegen deren internationalen Hitparaden permanent in der Hoffnung auf weitere Hörer. Folge: „Den im Rundfunkstaatsvertrag geforderten Kulturauftrag missachten sie mit den scheinheiligsten Ausreden.“ Die Quote forderte der DRMV schon 1998, unterschrieben von zahlreichen bekannten Musikern aus Deutschland.
Auch die 36.000 Mitglieder des Vereins Deutsche Sprache (VDS) haben sich Sprach- und Kulturförderung auf die Fahne geschrieben. Gegenüber Medienanstalten und Kulturpolitik will der Verein der seit Jahrzehnten schwindenden Bedeutung deutschsprachiger Musik im Alltag entgegenwirken.
Im VDS engagieren sich so unterschiedliche Prominente wie Dieter Thomas Heck, Haindling oder Matthias Grünert, der Kantor der Dresdner Frauenkirche, für Chorveranstaltungen und Wettbewerbe ebenso wie für Künstler und Akteure im Bereich der Musik.
Laut Geschäftsführer Holger Klatte führte der Verein im Rahmen seiner Initiative „Mehr deutsche Musik im Radio“ Erhebungen zum Deutsch-Anteil im Rundfunk durch. 2015 richtete er einen offenen Brief an die ARD-Rundfunkräte und bot argumentative Unterstützung für die Gremienkonferenz „Qualität im Hörfunk“ an. Zum MDR scheint das noch nicht durchgedrungen zu sein. Immerhin lud der Sender die Schlagerfans aus dem Seniorenverband Gera für Februar ins Thüringer Landesfunkhaus ein. Nun soll also über deutschsprachige Musik zumindest schon mal geredet werden.