Er ist 15 Jahre alt, geht in die 8. Klasse und engagiert sich im Kinder- und Jugendparlament in Charlottenburg-Wilmersdorf. Wenn er spricht, benutzt er die Hände. Patrick Seifert ist gehörlos.
Es ist früher Abend an einem Donnerstag im Dezember. In einem kleinen Zimmer im altehrwürdigen Rathaus Wilmersdorf hat der frisch gewählte Vorstand des Kinder- und Jugendparlamentes (KJP) Charlottenburg-Wilmersdorf gerade seine erste Sitzung absolviert. Das KJP gibt es seit 15 Jahren, es ist das älteste in Berlin. Thomas Juhl vom Jugendamt, der die Geschäftsstelle des Parlaments leitet, macht darauf aufmerksam, dass noch die nächsten Sitzungstermine abgestimmt werden müssen. Jetzt wird hitzig diskutiert. Nur einer sitzt still. Es ist Patrick, er blickt auf seine Dolmetscherin.
Die Termine sind gefunden, nach und nach gehen die Kinder und Jugendlichen nach Hause. Patrick bleibt noch für ein Gespräch. Er sieht etwas müde aus, es war ein langer Tag. Aber als er anfängt zu reden, ist er voll konzentriert, seine Händen bewegen sich schnell hin und her, sein Mund formt lautlos Worte.
Geboren und aufgewachsen ist er in Hamburg. Er hat dort zunächst die Gehörlosenschule besucht und lesen und schreiben gelernt. Ab der 3. Klasse ging er dann in die Schwerhörigenschule. Vor zweieinhalb Jahren zog er dann mit seinen Eltern nach Berlin. „Ich wollte die Gebärdensprache und die Gehörlosenkultur besser kennenlernen", sagt er. Er geht in die Ernst-Adolf-Eschke-Schule, eine Schule mit dem Schwerpunkt Hören für hörgeschädigte Kinder und Jugendliche. Dort wird zweisprachig gelernt mit der Laut- und Schriftsprache mit lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG) und der Deutschen Gebärdensprache (DGS). LBG hat die gleiche Grammatik wie die deutsche Lautsprache, DGS aber ist eine eigenständige Sprache, die Grammatik ist ganz anders. Wenn die Schüler Ausflüge machen oder ins Theater gehen, werden sie dabei aber auch von Dolmetschern unterstützt.
„Ich wusste ja, dass es in Berlin anders würde als in Hamburg. Aber ich habe mich ziemlich schnell eingelebt, komme mit meinen Mitschülern gut aus", erklärt der 15-Jährige.
„Hörende Menschen wissen nicht viel über Gebärdensprache"
„Für uns ist egal, wie die Buchstaben ausgesprochen werden, wir kriegen das ja akustisch nicht mit. In unserer Sprache haben wir verschiedene Handgesten und -stellungen und benutzen die Mimik. Hörende Menschen wissen nicht viel über Gebärdensprache." LBG ist für gehörlose Menschen im Alltag und beim Lernen kompliziert, für Patrick weniger, weil er zu Hause damit aufgewachsen ist. „Ich habe am Anfang da auch meine Mühe gehabt, ich bin ja Anderssprachler. Trotzdem bin ich froh, eine bilinguale Förderung zu haben." Mit seiner Mutter gebärdet er zuhause in LBG. Sie ist hörend und hat es für ihn gelernt.
Die Gebärdensprache ist in Deutschland inzwischen seit 2002 anerkannt. Trotzdem sieht Patrick für sich noch viele Barrieren. Wie wird es sein, wenn er sich in seinem künftigen Beruf mit Kollegen unterhalten muss? Von ihm wird verlangt, dass er sich an die hörende Gesellschaft anpasst. Das wird nicht so einfach, vermutet er.
Patrick trägt ein CI, ein Cochlea-Implantat, das ist eine Art Hörprothese. Er bewege sich damit sozusagen in einer dritten Welt, meint er, weil das Hören für ihn doch noch mal was anderes ist. Er muss die Geräusche, die er hört, einordnen, lernen, wo jeder Ton hingehört, was er bedeutet. Das heißt auch, er muss sein Hörvermögen in Hörverständnis erweitern. Für jemanden wie ihn, der vorher ein Hörgerät hatte, ist das einfacher. Nach wie vor trifft er sich gerne mit Menschen, die gebärden. Aber es war seine Entscheidung, ein CI zu tragen. Er hat sich zuvor mit CI-Trägern ausgetauscht, was spricht dafür, was dagegen. „Ich bin ja zum Glück neugierig, habe mir also alles angeguckt und dann beschlossen, das wage ich. Nach der Operation habe ich gehört. Das war unglaublich. Andere CI-Träger können nur Geräusche oder Musik hören, da ihr Hörvermögen nicht geübt ist. Wenn ich mit jemandem rede, kriege ich das schon mit, aber ehrlich gesagt gebärde ich lieber. Ich kann so ich leichter kommunizieren, weil das Hören für mich anstrengend ist mit den Umgebungsgeräuschen und besonders im Gespräch mit zwei oder mehr Menschen."
Seit zwei Jahren arbeitet Patrick beim Kinder- und Jugendparlament im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf mit. „Die Lehrer empfahlen mich, weil ich das politische Gespür dafür habe. Ich fand das sehr interessant und wollte mitmachen. Beim ersten Plenum, an dem ich teilgenommen habe, wurden unterschiedliche Themen behandelt, alle sehr spannend." Er hat sich zur Wahl aufstellen lassen und wurde gewählt, zwei Drittel der Stimmen fielen auf ihn. „Ehrlich gesagt, ich war ziemlich erstaunt. In dem Jahr haben wir probiert, ob ich an allem teilnehmen kann. Ich brauche ja immer Dolmetscher, die muss ich bestellen und deshalb die Einladungen für die Sitzungen rechtzeitig bekommen. Jetzt kriege ich die Termine ein Jahr im Voraus, da kann ich alles gut planen. Für 2018 habe ich schon die Dolmetscher bestellt."
„Die Lehrer empfahlen mich, weil ich das politische Gespür habe"
Er engagierte sich in der AG Umwelt. Die Themen fand er interessant und vorallem zukunftsträchtig. Zum Beispiel die Aktion mit den Seedbombs, den Samenbomben, war sehr erfolgreich. Anfangs nicht so einfach, hat es dann aber mit Learning by Doing funktioniert. Es sollte eine Kugel sein, die die Weltkugel symbolisiert. Dann die Frage: Was nehmen wir für Papier, was schreiben wir da drauf, wer besorgt das Material und vor allem, wer macht es? Dann musste auch der Text für das Plakat an die Leute von der Öffentlichkeitsarbeit gegeben werden für den Druck. Und nicht den QR-Code vergessen. „Die Kugeln herstellen und mit Samen bestücken hat Spaß gemacht", erinnert sich Patrick, „war aber auch ziemlich anstrengend und ermüdend. Dann noch alles eintüten und zutackern. Herr Juhl, unser bester Mann, ohne den es das Parlament wahrscheinlich gar nicht gebe, hat das alles mit Fotos dokumentiert. Es gab bereits Rückmeldungen von Leuten, die was ausgesät haben."
Demnächst steht das Thema Müll an. „Das müssen wir noch besprechen, ob wir was selbst machen oder uns an verschiedenen Aktionen beteiligen."
Jeder kann sich im Kinder- und Jugendparlament mit Themen einbringen. „Beim 3. Plenum habe ich einen Antrag gestellt, der eigentlich nichts mit Umwelt zu tun hat, aber mich sehr beschäftigt und, wie ich finde, auch andere betrifft. Es geht ums Kino, genauer gesagt um die Untertitel, die fehlen. Ohne sie können sich Gehörlose und Schwerhörige keine Filme ansehen. Hörende können sich das nur schwer vorstellen und so musste ich die anderen darüber aufklären, wie das ist und das wir uns natürlich ausgeschlossen fühlen." Patrick wirkt auf einmal gar nicht mehr so müde, seine Hände bewegen sich schneller auf und ab. „Was kriegt man mit von einem Film ohne Ton? Ich habe also einen Text entworfen mit Argumenten. Meine Eltern haben mir dabei geholfen, damit es jeder versteht. Der Antrag wurde angenommen, dann in den Kulturausschuss der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf gegeben und dort auch angenommen. Das Bezirksamt ist dabei, das umzusetzen und hat schon mit einigen Kinos Kontakt aufgenommen. Ich habe in der Schule eine Befragung gemacht, welche Filme gezeigt werden sollen. Wenn alles klappt, wird es in einigen kleinen Kinos ein Pilotprojekt geben. Wirklich schön zu sehen, wie wir so ein Ziel gemeinsam erreicht haben."
Im Augenblick ist das Kinder- und Jugendparlament für ihn das Wichtigste, neben der Schule natürlich. Er sei gut ausgelastet in der 8. Klasse, wie er sagt, andere Sachen könne er da gar nicht mehr machen. Er möchte gerne Lehrer werden, politische Geschichte, Erdkunde, Deutsch, das interessiert ihn. „Naja, Naturwisschenschaften auch, aber da muss ich mal sehen, wie ich das schaffe. Gehörlosendolmetscher würde mich allerdings auch reizen, ich spreche ja beide Sprachen. Ganz genau weiß ich noch nicht, wo es hingeht. Ich muss sehen, welche Wege es gibt und vor allem, ob sie für mich gangbar sind. Ich bin jedenfalls auf die Zukunft gespannt."