Immer mehr Eltern erziehen ihre Kinder genderneutral. In Schweden gibt es schon entsprechende Schulen und ein eigenes Pronomen. Wird das Geschlecht in der Erziehung überflüssig?
Rosa oder blau ist eine Frage, die manche Eltern nicht für ihre Kinder beantworten wollen. Die Kleinen sollen selber auswählen, wer sie sein wollen, was sie tragen wollen und welchen Hobbys sie nachgehen. Typisch Junge oder typisch Mädchen sei ein Ansatz von gestern. Die Idee dahinter: Geschlechterrollen und die damit einhergehenden Erwartungen schränken uns alle ein.
In Internetforen und Social-Media-Gruppen berichten Eltern davon, wie sie ihre Kinder geschlechtsneutral erziehen. Sie sagen auf dem Spielplatz beispielsweise nicht „Schau mal, das Mädchen dort drüben möchte mit dir spielen“, sondern reden solange von Kindern bis ihre eigenen Sprösslinge selbst etwas anderes sagen. Für die Eltern gibt es nicht nur Jungen und Mädchen, sondern auch Enbies, Kinder, die weder das eine noch das andere, beides oder etwas anderes sind. Bei Büchern wählen sie oft solche aus, die eine gewisse Vielfalt präsentieren: Menschen aller Hautfarben, Menschen mit Hilfsmitteln oder Menschen, die optisch nicht eindeutig zu verordnen sind. Beim Vorlesen werden männliche Protagonisten hin und wieder zu weiblichen oder geschlechtsneutralen. Spielzeug weisen sie ihren Kindern nicht zu, sondern lassen die Kleinen selber auswählen. Eine Nutzerin schreibt: „Solange die Kinder klein sind, tragen sie, was uns gefällt – auch Kleider und rosa. Wenn Sie älter werden, dürfen sie selbst entscheiden. Genau wie über die Länge ihrer Haare“. Von einem „K1“, also einem „Kind 1“, ist da die Rede. Das Kind möchte kurze Haare, am liebsten grüne Klamotten mit Glitzer, Bagger, Traktoren, Drachen und Schmetterlingen.
Während Spielzeughersteller wie Lego auf diesen Trend reagieren und Bausteinkollektionen mit Kosmetiksalon und Lippenstift auf den Markt bringen, stoßen die Eltern mit ihren Erziehungsgrundsätzen spätestens im Kindergarten auf Gegenwehr. Kindergartenfrei würde helfen, schreibt eine Bloggerin, denn dort würden die Kleinen die Zweigeschlechtlichkeit aufschnappen und mit nach Hause bringen. Aber kann das die Lösung sein? Ist geschlechtsneutrale Erziehung überhaupt gut für Kinder und kann solch ein Modell zukunftstauglich sein?
„Enbies“ ist die geschlechtsneutrale Bezeichnung für Kinder
Wie so etwas aussehen könnte, kann man in Schweden bereits sehen. Seit 1998 schon ist es im Lehrplan des schwedischen Bildungsministeriums verboten, Gender-Stereotypen durchzusetzen. Bereits damals wollte der Staat die Geschlechtergleichstellung in schwedischen Kindergärten vorantreiben. Jedes Kind sollte sich so entwickeln können wie es möchte. 2010 wurde in Stockholm die erste geschlechtsneutrale Vorschule eröffnet. Auch entsprechende Kindergärten werden vom Staat finanziert. Speziell ausgebildete Erzieher ermöglichen den Kindern, ohne festgelegte Geschlechts-identität aufzuwachsen. Seit 2015 steht auch das geschlechtsneutrale Pronomen „hen“ im schwedischen Wörterbuch.
Die Stockholmer Lehrerin Lotta Rajalin ist die Leiterin der geschlechtsneutralen Vorschule Egalia. Bis zur Eröffnung war es ein langer Weg. Zunächst hat Rajalin sich und ihre Kollegen bei der Arbeit gefilmt. Das Fazit: Erzieherinnen und Erzieher behandeln Jungen und Mädchen unterschiedlich. Dies zeigt ein Bericht der schwedischen Regierung von 2006, aus dem hervorgeht, dass Jungs unbewusst mehr Aufmerksamkeit bekommen und ihnen mehr Freiraum zugestanden wird als Mädchen.
In der Egalia will man das anders machen. Die Kinder sagen dort etwa nicht Mädchen oder Junge, sondern Freunde. Die Pronomen er oder sie werden gestrichen und durch „hen“ ersetzt. Aber auch bei Spielsachen und Literatur achten die Erzieher genau auf die Auswahl. Märchen beispielsweise gibt es dort nicht, denn Märchen vermittelten Klischees und die wolle man in der Stockholmer Vorschule nicht fördern. Einige traditionelle Lieder wurden umgedichtet und statt Mama, Papa, Kind ermutigen die Erzieher die Kleinen dazu, auch mal Papa, Papa, Kind oder Mama, Mama, Kind zu spielen.
Die Warteliste der Egalia ist lang
Die Warteliste der Egalia ist lang. Doch nicht alle sind von der Vorschule und ihren Ideen begeistert. Anonyme Drohbriefe und Beschimpfungen an der Tür, die den Erziehern vorwerfen, Jungs zu Mädchen und Mädchen zu Jungs zu machen, sind die andere Seite der Medaille. Die Soziologin und ehemalige Gleichheitsexpertin der schwedischen Akademiker-Organisation Elise Claeson kritisierte in der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter die Einführung des Begriffs hen. Ein drittes Geschlecht sei nicht gut, sondern verwirrend für Kinder. Erwachsene sollten auf diese Weise nicht das Entdecken von Sexualität und Geschlecht beeinflussen. Auch die Pädagogin Kajsa Walström übt Kritik an der Egalia. Wörter und Geschichten unsichtbar zu machen, sei auch eine Art der Diskriminierung. Ergänzung statt Verstecken, müsse die Marschrichtung sein.
Wie genderneutrale Erziehung zu bewerten ist, darüber streiten Wissenschaft und Gesellschaft. Das Geschlecht sei identitätsbildend und es sei irritierend, wenn man nicht wisse, wen man vor sich habe, sagen die einen. Auf diese Weise würde man Kindern Orientierung und Zugehörigkeit verwehren. Zudem würde ein Fokus auf das Thema Geschlecht gelegt, der nicht altersgerecht sei. Ein Verständnis für gesellschaftlich bedingte Rollenbilder würde erst viel später entwickelt, heißt es von einigen Wissenschaftlern. Durch das Anderssein würden die Kinder auch auf Unverständnis stoßen. Großeltern oder Bekannte verstehen häufig nicht, warum Jungen und Mädchen nicht so erzogen werden, wie es immer schon war. Wer sein Kind geschlechtsneutral erziehen will, sollte daher auf Diskussionen gefasst sein. Auch Gleichaltrige halten mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg, wenn sie etwa einen kleinen Jungen auf einem rosafarbenen Fahrrad sehen. Oft ernten die Kinder damit Hohn und Spott. Für solche Fälle bräuchten sie ein gutes Selbstbewusstsein, und der Rückhalt in der Familie sei besonders wichtig.
Gut wiederum sei, dass die Gleichwertigkeit der Geschlechter gefördert werde und Kinder nicht durch die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht eingeschränkt würden. Denn auch in Bezug auf die Eltern konnten Studien belegen, dass viele Eltern unbewusst unterschiedlich mit Söhnen und Töchtern umgehen. Sie sprechen etwa mit neugeborenen Mädchen mehr als mit Jungen. Und auch, wenn Eltern sowohl Ritterburg als auch Einkaufsladen in das Kinderzimmer stellen, sind häufig die geschlechtertypischen Spielzeuge mehr im Vordergrund oder leichter erreichbar. Die geschlechtsneutrale Erziehung kann helfen, ein neues Bewusstsein zu schaffen und die Kleinen auch unbewusst nicht in eine bestimmte Richtung zu lenken. Kinder könnten sich freier entfalten und die Eigenschaften entwickeln, die ihrer Persönlichkeit entsprechen. Das Gefühl, ihren eigenen Weg finden zu dürfen, könnte vielen Kindern ein Selbstbewusstsein geben, das ihren späteren Lebensweg prägt, sagen Pädagogen.
Über die geschlechts-neutrale Erziehung streiten die Experten
Um Chancengleichheit und nicht um Gleichmacherei solle es gehen, sagt die Pädagogin Melitta Walter, die sich seit vielen Jahren mit der geschlechtergerechten Erziehung beschäftigt und zehn Jahre den Fachbereich „Geschlechtergerechte Pädagogik und Gewaltprävention“ im Schulreferat München leitet. „Kinder brauchen Möglichkeiten, die unterschiedlichsten Ausprägungen von männlichem und weiblichem Verhalten zu erleben. Aus diesem Pool an Vorbildern können sie sich die Elemente heraussuchen, die sie selbst als passend empfinden“, erklärt Walter.
Der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung und Erziehung in der Kindheit, Ralf Haderlein, sieht keine Zukunft für ein Konzept wie Egalia. Er und seine Kollegen hielten das Konzept für „pädagogisch nicht sinnvoll“. Vielmehr würde eine solche Initiative auf „naiven Vorannahmen beruhen, nach dem Motto, wir reden einfach nicht mehr über das biologische/soziale Geschlecht, dann sind wir auch die entsprechenden Ungleichheiten los“.
Ungeachtet der verschiedenen Vor- und Nachteile der geschlechtsneutralen Erziehung sieht man sich hierzulande von einer Art „deutschen Egalia“ also noch deutlich entfernt.