Justus Münster ist Notfallseelsorger, einer von denen, die bedingungslos helfen. Wenn man sie denn lässt. Zwar verspricht die Politik, zentrale Anlaufstellen für Katastrophenfälle zu schaffen und den Opferschutz zu stärken. Doch passiert ist bislang noch nicht besonders viel.
Es ist Punkt 9 Uhr an diesem nasskalten Montag. Einige Schneeflocken fallen. Justus Münster betritt gut gelaunt das Verwaltungsgebäude der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz in Friedrichshain. Ein altes Backsteingebäude, es wirkt wie ein ganz normaler Bürokomplex. Darin Münsters Raum: 15 Quadratmeter, gefüllt mit Regalen und Dutzenden Aktenordnern, einem Computer und zwei Pflanzen. Auf der Fensterbank eine Kaffeemaschine. „Die braucht man hier dringend.“ Das Telefon klingelt. „Justus Münster, Notfallseelsorge Berlin, guten Morgen.“ In dem unscheinbaren Büro laufen alle Drähte der Einrichtung zusammen. Es ist so etwas wie die Schaltzentrale der seelischen Akutbetreuung.
Ihr Chef ist Justus Münster. Der 43-Jährige ist einer von 150 Notfallseelsorgern der Stadt, er allein hat etwa 300 Einsätze im Jahr. Der evangelische Pfarrer ist der einzige mit einer hauptamtlichen Stelle. Bezahlt wird er jeweils zur Hälfte von der evangelischen und der katholischen Kirche. „Wir machen einen extrem wichtigen Job“, sagt Münster. „Wir sind da, wenn irgendwo in der Stadt etwas Schlimmes passiert ist.“ Das heißt immer: Ein Mensch ist gestorben, Angehörige brauchen dringend Soforthilfe. „Wenn Menschen sterben, bleiben Angehörige oft ratlos zurück. Das kann in einer Wohnung oder auf der Straße sein. Es hängt immer davon ab, wo etwas passiert ist.“ So unterschiedlich die Einsatzorte sind, so unterschiedlich ist die Arbeit. „Man muss sich immer wieder neu auf denjenigen einstellen, dem man gerade begegnet. Es ist wichtig, in der Situation zu entscheiden, wie man hilft.“ Münster erinnert sich an einen Mann, dessen Frau gerade gestorben war. „Wir haben uns eine halbe Stunde lang angeschwiegen. Das Schweigen hat ihm sehr geholfen. Das muss man aushalten.“ Dem Mann sei es danach besser gegangen. Er habe gespürt, dass er nicht alleine war. Die Notfallseelsorger bleiben so lange, bis die Not gelindert ist.
„Die Polizei hat uns Zugänge verwehrt“
6.000 solcher Einsätze gibt es im Schnitt in Berlin pro Jahr. Deren Spektrum reicht vom Autounfall über Mord bis zum plötzlichen Kindstod. Die Öffentlichkeit bekommt von der Arbeit der Notfallseelsorger meistens nichts mit. So auch am 19. Dezember 2016: Als der Attentäter Anis Amri mit einem Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche raste, waren Minuten später Hunderte Einsatzkräfte vor Ort. Unter ihnen neben Polizisten, Sanitätern und Feuerwehrleuten auch 20 Notfallseelsorger, koordiniert und geleitet von Münster: „Der Anschlag am Breitscheidplatz war allerdings ein Sonderfall. Die Polizei hat uns ganz bewusst Zugänge verwehrt und das, obwohl sie uns selbst angefordert hat.“ Heißt im Klartext: Die Seelsorger durften nicht mit allen Opfern und Angehörigen sprechen. „Wir haben im Nachhinein natürlich gesagt: Freunde, so geht das nicht“, betont Münster.
Das Vorgehen der Berliner Polizei war nur ein Beispiel der Fehler, die Behörden vor, während und nach dem Anschlag machten. „Es gab die skurrilsten und unmöglichsten Situationen“, sagt Burkhard Dregger, innenpolitscher Sprecher der Berliner CDU und Vorsitzender des Untersuchungsausschusses „Anis Amri“ im Abgeordnetenhaus. Nach dem Auswerten Hunderter Akten kann er nur kopfschüttelnd feststellen: „Beim Opferschutz haben wir ganz klar versagt.“ Was das bedeutet, bekamen etwa Heinz-Jörg (51) und seine Freundin Anja (48) zu spüren. Nach einem Einkaufsbummel wollten der Messebauer und seine Freundin „noch schnell einen Glühwein trinken“. „Dann brach die Hölle los“. Anja wurde bei dem Anschlag leicht am Fuß verletzt. Nach der ersten medizinischen Versorgung kam die Polizei: „Die haben uns kommentarlos in irgendeinen Raum gebracht. Was sollte das? Wir wollten doch nur das Erlebte verarbeiten.“ Ein Notfallseelsorger hätte helfen können. Doch der durfte nicht zu ihnen kommen. Die Polizei isolierte die Opfer offenbar, um sie zu vernehmen. Heinz-Jörg: „Wir sind einfach abgehauen und haben uns selbst einen Psychologen gesucht.“
Der Fall zeigt, wie wichtig Notfallseelsorger sind. Mit ihrem Willen, bedingungslos zu helfen, geben sie Halt. Heinz-Jörg und Anja wäre es wahrscheinlich schon am Abend des Anschlages besser gegangen. Doch das hat die Berliner Polizei verhindert. Kein Einzelfall, weiß Rechtsanwalt Roland Weber. Seit fünf Jahren ist der 51-Jährige Opferbeauftragter in Berlin. „Bei dem Anschlag hatten wir eine Vielzahl direkt oder indirekt betroffener Menschen. Es gab zwölf Verstorbene und zwischen 60 und 70 Primärverletzte. Dutzende Augenzeugen liefen nach dem Anschlag einfach traumatisiert über den Markt. Das war eine sehr schwierige Situation.“ Menschen seien mit ihren psychischen Problemen allein gelassen worden. Weber forderte deshalb kurz darauf, eine zentrale Anlaufstelle für Opfer und Betroffene zu schaffen.
Die Anlaufstelle steht ab Sommer bereit
Webers Forderung wurde mittlerweile von der rot-rot-grünen Koalition erfüllt. Anfang November 2017 beschloss der Senat, dass Berlin als erstes Bundesland eine zentrale Anlaufstelle bekommt. Justizsenator Dirk Behrendt will diese Stelle mit einem Rechtsanwalt, einem Psychologen und einem Sozialarbeiter besetzen. „Außerdem wird es eine zentrale Rufnummer geben.“ Eigentlich sollte die Anlaufstelle bereits im ersten Quartal dieses Jahres ihre Arbeit aufnehmen. Daraus wird wohl nichts: Noch liefen die Bewerbungsverfahren, verlautet es aus der Senatskanzlei. Im Sommer soll es aber endlich soweit sein. Der Senat will sich ab Sommer zudem mit mehr Geld beim Opferschutz engagieren. „Darüber würden wir uns sehr freuen“, sagt Pfarrer Münster. „Aber die zentrale Anlaufstelle betrifft natürlich in allererster Linie die großen Katastrophen.“
Der Großteil der Einsätze der Berliner Notfallseelsorger finde im häuslichen Umfeld statt. „Die schlimmsten Sachen passieren meistens genau dort. Alles dreht sich um den Toten oder den Schwerverletzen. Die Angehörigen stehen oft hilflos und alleingelassen da.“ Die ehrenamtlichen Notfallseelsorger haben dann für sie Zeit. Sie beruhigen, trösten, übernehmen auch Aufgaben, zu denen die Angehörigen nicht in der Lage sind. Manchmal benachrichtigen sie Verwandte, nehmen in den Arm, schweigen mit den Angehörigen und sind einfach nur da. Bisweilen müssen sie einen Betroffenen aus einem schockähnlichen Zustand in die Realität zurückholen. Vielleicht mit der simplen Frage, ob er etwas trinken möchte. „Schweigen ist manchmal schwieriger als reden “, sagt Münster, „aber genau das müssen wir aushalten.“ Kraft für seine Aufgabe gebe ihm vor allem das Gefühl, für die Angehörigen von soeben Verstorbenen da zu sein. „Das stärkt mich für den nächsten Einsatz. Ich weiß: Es ist nicht mein Verstorbener und auch nicht meine Traueraufgabe in den nächsten Wochen und Monaten.“ Dennoch: „Was ich vor Ort wahrnehme – rieche, schmecke, fühle – wird zu einem Teil von mir.“
Münsters Familie erfährt von alldem nichts. Erstens unterliegen Notfallseelsorger der Schweigepflicht, zweitens seien seine beiden Kinder noch zu klein, um zu verstehen, was der Tod bedeute. „Sie denken: Papa ist Feuerwehrmann.“ Größere Einsätze werden im Team ausgewertet. „Ziel ist immer, dass wir das Ganze verstehen und sich keine Fragmente in unsere Seelen einbrennen.“ Doch das hilft nicht immer: Nach besonders schwierigen Einsätzen greift Münster zu seinen Laufschuhen und joggt durch den Tiergarten oder entlang der Spree.
