Es mutet wie eine kleine Bundestagswahl an, wenn 463.723 SPD-Mitglieder über den Koalitionsvertrag und damit eine neue Regierung abstimmen. Bei allen Bedenken gegen das Verfahren: Ein Scheitern kann sich die SPD nicht leisten.
Vor vier Jahren hatte Sigmar Gabriel eine beinahe brilliante Idee. Das Bundestagswahlergebnis mit Kanzlerkandidat Peer Steinbrück mit 25,7 Prozent der Stimmen war nicht ganz so prall ausgefallen wie erhofft, da wollte sich der damalige Parteichef Gabriel den ausgehandelten Koalitionsvertrag zur Groko pro forma mal von seinem Parteivolk bestätigen lassen. Als immerhin 76 Prozent der Parteigenossen im Mitgliedervotum den Vertrag anno 2013 für gut befanden, war selbst der damalige Parteichef freudig überrascht. Bei der Pressekonferenz scherzte er, die SPD-Ortsvorsitzenden der Republik hätten wohl gute Arbeit geleistet, natürlich nicht beim Kreuzchen machen, sondern bei der Mobilisierung zum ersten Mitgliederentscheid über einen Koalitionsvertrag. Derzeit ist bei der SPD niemanden zum Lachen zu Mute, denn das Mitgliedsvotum 2018 steht unter keinem so guten Stern angesichts der bescheidenen Gesamtlage der Partei. Obendrein ist vieles gar nicht so richtig klar. Laut Parteitagsbeschluss vom Januar in Bonn soll das Ergebnis für den Parteivorstand bindend sein. Nur überlagert längst die Personaldebatte die Diskussion um die ausgehandelte Vereinbarung. „Schluss damit, jetzt geht’s um Inhalte“, fordert die Führungsriege um die neue starke Frau in der Partei, Andrea Nahles, aber keiner hört mehr zu, schon gar nicht die Basis. Zu verheerend der Schulz-Rücktritt, zu tief steckt der SPD-Vorstand in diesem Debakel mit drin. Dabei kann sich das Erreichte aus Sicht der SPD sehen lassen: mehr Geld für Kinder, Familien und Rentner, dazu noch das Finanzministerium als Bonus oben drauf.
Mitgliedervotum und das freie Mandat
Aber schon das Verfahren sorgt für Irritationen und Verdruss, sowohl innerhalb des SPD-Parteiapparats, der Bundestagsfraktion, als auch parteiübergreifend. Es drängt sich die Frage auf, warum nicht mal 0,7 Prozent der Wahlberechtigten letztlich bestimmen sollen, von welcher Regierung 83 Millionen Deutsche regiert werden sollen. Beim zuständigen höchsten Gericht in Karlsruhe wurden mehrere Verfassungsbeschwerden und Eilanträge gegen das SPD-Mitgliedervotum eingereicht. Doch das Gericht hat all diese Beschwerden und Anträge ohne Begründung gar nicht erst zur Entscheidung angenommen.
Damit kann die SPD ihre Mitglieder über den Koalitionsvertrag wie geplant abstimmen lassen. Grundlage für diese Entscheidung ist ein ähnliches Urteil aus dem Spätherbst 2013.
Wörtlich heißt es in der Begründung: „nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz werden Verfassungsbeschwerden dann nicht angenommen, wenn ihnen keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt“. Somit hatte das oberste Gericht bereits vor vier Jahren befunden, dass das Verfahren in der SPD wohl nicht gegen das Grundgesetz verstoße.
Trotzdem bleiben grundsätzliche Fragen, die auch Teile der SPD-Bundestagsfraktion teilen. Es geht um das „freie Mandat“ der vom (gesamten) Volk gewählten Parlamentarier.
Denn ein nur von den SPD-Mitgliedern bindend abgesegneter Koalitionsvertrag könnte wie ein „imperatives Mandat“ gewertet werden, wonach der Abgeordnete an das Votum der Parteibasis gebunden wäre. Und das würde dann eben nicht nur für das aktuelle Votum, sondern für alle im Koalitionsvertrag ausgehandelten Gesetzgebungen für die kommenden knapp vier Jahre gelten. Das wiederum widerspräche der vom Grundgesetz garantierten freien und unabhängigen Ausübung des Mandats und überschreitet bei Weitem die Grenze der noch zulässigen Fraktionsdisziplin. Die SPD-Abgeordneten dürften also nicht mehr nach ihrem Gewissen (und im Interesse ihres gesamten Wahlkreises, nicht nur der dort lebenden SPD-Mitglieder) entscheiden. Das, so Staatsrechtler, untergräbt den in der Verfassung verankerten Grundsatz der repräsentativen Demokratie. Demnach sind die sozialdemokratischen Abgeordneten nach Artikel 38 Grundgesetz „Vertreter des ganzen Volkes“ und eben nicht der SPD-Parteibuchbasis.
Für Neuwahlen wäre kein Geld mehr da
Ganz abgesehen von den massiven staatsrechtlichen Bedenken hat das Mitgliedervotum noch einen weiteren, erheblichen Pferdefuß, nämlich das parteiinterne Verfahren selbst und dessen Quoren. „Wenn 20 Prozent der Mitglieder ihre Stimme abgegeben, ist das Votum verbindlich und der Abschluss des Koalitionsvertrages entsprechend dem Ergebnis angenommen oder abgelehnt.“
Also müssen gar nicht die vielzitierten 463.723 SPD-Mitglieder in ihrer Gesamtheit votieren, was 0,7 Prozent der Wahlberechtigten ausmachen würde, es reichen 92.624 SPD-Stimmen, damit das Votum Gültigkeit erlangt. Wenn von diesen – dann noch 0,14 Prozent Stimmen der Wahlberechtigten – die Hälfte plus eine Stimme gegen den Koalitionsvertrag votiert, ist das Verhandlungswerk in Gänze abgelehnt. Damit könnten also 46.312 SPD-Mitglieder die Wucht einer Bundestagswahl entfalten.
Diese Verhältnisrechnung macht deutlich, warum dem linken Flügel und den Jungsozialisten in der SPD um ihr Anliegen gar nicht bange ist. Bei geringer Beteiligung am Votum könnten sie das „Nein“ zum Koalitionsvertrag noch bewerkstelligen. Denn allein die Jusos stellen knapp 45.000 Stimmberechtigte, dazukommen noch mal die zahlenmäßig beträchtliche Gruppe von Mitgliedern, die dem linken Parteiflügel zugehört oder nahesteht. Gelingt es nun den Gegnern der Groko, ihre eigenen Truppen reichlich zu motivieren, könnte das Projekt „Ablehnung“ tatsächlich gelingen.
Denn bei den anderen, eher bürgerlichen SPD-Genossen ist die Motivation nicht sehr hoch, sich für eine Bestätigung des Koalitionsvertrages stark zu machen. Zu verheerend haben sich die letzten sozialdemokratischen Chaos-Monate auf das gemäßigte Parteipublikum ausgewirkt, keiner vermag derzeit, die SPD noch zielsicher politisch zu verorten.
Eine Zustimmung zum Koalitionsvertrag wird nun auch noch als Segen für die gerade inthronisierte kommissarische Parteichefin Andrea Nahles empfunden. Immerhin war sie es, die an jenem verhängnisvollen Mittwoch nach Abschluss der Verhandlungen im Atrium der SPD-Zentrale in Berlin breit grinsend den neuesten Postendeal mit Martin Schulz verkündet hat.
Sie freute sich damals ganz offensichtlich doppelt. Nun sollte sie doch noch den Parteivorsitz bekommen und ihrem liebsten Intimfeind Sigmar Gabriel (derzeit Außenminister) zum krönenden Abschluss eins „voll in die Fresse“ geben, um im Nahles-Sprech zu bleiben.
Dass der wiederum höchst ungalant nachtreten würde, damit hatten Schulz und Nahles zumindest in dieser Art nicht bedacht. Die Folgen sind verheerend für das Ansehen der Sozialdemokraten, und birgt die Gefahr, dass das Mitgliedsvotum noch unkalkulierbarer wird, als es ohnehin schon war.
Unabhängig vom Ausgang steht eine Konsequenz für die SPD bereits jetzt fest, wenn sie Anfang März neben dem politischen auch einen finanziellen Kassensturz machen muss. Allein das schlechte Wahlergebnis hat ein Minus von vermutlich um die zehn Millionen Euro in der Parteikasse hinterlassen. Dann noch mal eben 460.000 Briefe verschicken ist auch nicht ganz billig. Vor vier Jahren soll die Aktion Mitgliedervotum um die zwei Millionen Euro gekostet haben. Neuwahlen im Fall eines Scheiterns kämen für die Partei neben dem politischen auch einem finanziellen Harakiri gleich.