Die SPD ist aus den Fugen, Merkels Autorität erodiert.
Lange Jahre galt Deutschland in der Welt als Hort der Stabilität. Die Wirtschaft brummte (die meiste Zeit), die Politik funktionierte. Natürlich gab es turbulente Phasen wie die Studentenbewegung Ender der 60er-, den RAF-Terror während der 70er- oder die Nato-Nachrüstung Anfang der 80er- Jahre. Aber trotz der heftigen gesellschaftlichen Debatten galt die Regel: Die Regierung regiert, und die Opposition opponiert.
Spätestens seit der letzten Bundestagswahl ist das politische Geschäft erschüttert. In der Wahrnehmung der Bürger gelingt es den Parteien nicht, ihren Job zu machen und eine Regierung zu bilden. Pflicht und Disziplin sind abhandengekommen. Die politische Klasse ist zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten mutiert. Karrierismus wird zu einem neuen olympischen Wettbewerb.
Den Anfang machte FDP-Chef Christian Lindner. Er verließ die „Jamaika“-Sondierungen Knall auf Fall, weil er seine Maximalpositionen nicht durchsetzen konnte. Dabei hätte ein schwarz-gelb-grünes Bündnis durchaus seinen Charme gehabt. Doch Lindner scheute die Mühen der Koalitionsebene und spekulierte auf den Aufstieg seiner Liberalen in der Ära nach Bundeskanzlerin Angela Merkel. Politik als Ego-Trip.
Noch mehr geistert das Prinzip der Solonummern durch die SPD. Die Ursachen liegen jedoch tiefer. Die Sozialdemokraten stecken in einer existenziellen Identitätskrise. Zwei Perioden als Juniorpartner Merkels in einer „großen Koalition“ haben den Genossen desaströse Wahlniederlagen beschert. Die SPD befindet sich in einer gefährlichen Sandwich-Position: Arbeitslose und Menschen mit niedrigem Einkommen wandern zur AfD oder zur Linken ab. Gutbetuchte Ökosoziale in den Ballungszentren machen ihr Kreuz bei den Grünen. Viel übrig bleibt da nicht.
In dieses Talfahrt-Gefühl der Genossen hinein platzte Martin Schulz. Die SPD-Basis sah in dem quirligen Optimismus-Macher den Retter in der Not. Und die Parteispitze glaubte plötzlich an ein Mobilisierungswunder. Beide Seiten saßen jedoch einer Illusion auf. Die Sozialdemokraten ließen sich von anfänglichen Umfrage-Erfolgen einlullen und berauschten sich am Schulz-Hype. Der SPD-Chef und Kanzlerkandidat hingegen überschätzte seine Fähigkeiten und unterschätzte die Fallstricke des Berliner Politikbetriebs. Als er am Ende den Parteivorsitz abgab, um wenigstens das Außenamt zu retten, stand er als demaskierter Postenjäger da.
Aber auch der Rest der SPD-Spitze bekleckerte sich nicht mit Ruhm. Außenminister Sigmar Gabriel keifte gegen das Genossen-Establishment, als sich Schulz das Außenministerium schnappen wollte. Das neue Macht-Duo Andrea Nahles und Olaf Scholz hat hingegen noch eine Rechnung mit dem Ex-Parteichef offen und will Gabriel unter allen Umständen im Kabinett verhindern. Gegen Nahles als Vorsitzende gibt es jedoch unerwarteten Widerstand: Die Basis macht mobil und will eine Mitgliederbefragung zur Kür der Chefin/des Chefs. Die SPD ist völlig aus den Fugen.
Auch beim Kanzlerwahlverein CDU knirscht es gewaltig. Die Autorität der lange Zeit bewunderten Physikerin der Macht ist beträchtlich erodiert. Seit Merkels strategischer Fehlentscheidung in der Flüchtlingskrise 2015 – Öffnung der Grenzen, ohne sich über die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft Gedanken zu machen – gingen die Werte der Union steil nach unten.
Merkel hat ihre Partei Zug um Zug sozialdemokratisiert. Dabei ging die christdemokratische Seele verloren. Die Kanzlerin hat das latente Grummeln an der Basis ignoriert. Nach dem Koalitionsvertrag brach sich die Unzufriedenheit Bahn. Kritiker werden Merkel einen Ausverkauf von Inhalten und Ministerien an die SPD vor. Dass sie sich verpflichtet sah, bis zum CDU-Parteitag Ende Februar neue, junge Köpfe ins Kabinett zu holen, zeigt: Die Kanzlerin hat den Nimbus der Unantastbarkeit verloren. Der Geist des Widerspruchs ist aus der Flasche und wird keine Ruhe geben.
Die Chaostage in Deutschland stehen für einen Gezeitenwechsel. Die sogenannten Volksparteien sind nicht mehr in der Lage, das „Volk“ abzubilden. Nach einer zu Beginn der Woche veröffentlichten Umfrage des Insa-Instituts fiel die SPD auf 16,5 Prozent, nur noch 1,5 Prozent vor der AfD. Die Union landete bei 29,5 Prozent. Und das ist wohl erst der Anfang. Der Republik stehen turbulente Zeiten bevor.