So zynisch es klingt: Es war eine perfekt organisierte Veranstaltung. Nichts wurde dem Zufall überlassen, als Hitlers Chefdemagoge Joseph Goebbels 1943 im Berliner Sportpalast Beifallsstürme bei seiner Rede zum „totalen Krieg" erzeugte.
Ein Revolutionär müsse alles können, hatte er in der „Kampfzeit" geschrieben: „vulkanische Leidenschaften entfesseln, Zornesausbrüche wecken, Menschenmassen in Marsch setzen, Hass und Verzweiflung organisieren", und zwar „mit eiskalter Berechnung". Dass er dies alles tatsächlich vermochte, bewies Hitlers Chefpropagandist Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast vor geladenen 15.000 Zuhörern in seiner wohl bekanntesten, aber auch perfidesten Rede („Wollt ihr den totalen Krieg?"). Man hat sie immer wieder herangezogen zum Beweis der Regime-Nähe des deutschen Volkes, der Möglichkeiten propagandistischer Massensuggestion und der Verführbarkeit eines durch raffinierte Rhetorik irregeführten Publikums. Wie so oft in Diktaturen, gingen auch in diesem Fall Mythos und Wirklichkeit eine enge Verbindung ein.
Im Februar 1943 verschlechterte sich die militärische Lage Deutschlands zusehends. Infolge des Untergangs der 284.000 Mann starken Paulus-Armee im Kessel von Stalingrad war die Stimmung im Volk auf einen absoluten Tiefpunkt gesunken. Rommels Afrika-Korps hatte sich um El Alamein in Ägypten festgerannt, die Alliierten hatten die Landung in Marokko geschafft. Immer mehr deutsche Städte wurden mit vernichtenden Bombardements überzogen. Angesichts dieser düsteren Gegebenheiten zielte Reichsminister Goebbels unter Einsatz seines gewaltigen Propaganda-Apparates auf die Mobilisierung der letzten Reserven der Heimatfront.
In einer Denkschrift für Hitler regte er unter anderem an, von den 5,2 Millionen als „unabkömmlich" geltenden Wehrtüchtigen eine Dreiviertelmillion als Soldaten für 30 neue Divisionen und eine Million als Rüstungsarbeiter zu mobilisieren. „Faulenzer und Parasiten" wie etwa die „Töchter der Plutokraten" sollten kriegsverpflichtet, Luxuslokale, Modesalons und Geschäfte ohne nennenswertes Warenangebot dicht gemacht werden. Doch Hitler verweigerte sich einer Mobilisierung der gesamten Gesellschaft für den Krieg. Viele Deutsche erinnerten sich noch an entsprechende Aufrufe von 1916, denen zwei Jahre später die Niederlage gefolgt war. Dieses Risiko wollte er umgehen. Er würde sich erst nach einer „Wende" an der Ostfront wieder öffentlich äußern.
Goebbels wollte Hitler unter Druck setzen
Goebbels war unzufrieden. Es müsse „weiter gehetzt und angetrieben werden", notierte er im Tagebuch. Deshalb werde er „eine Rede halten, die an Radikalismus alles bisher Dagewesene übertrumpft." So wollte der „kleine Doktor", wie er parteiintern bespöttelt wurde, Druck auf Hitler ausüben und seine eigene Rolle im Machtgefüge aufwerten. Die Rede musste sein Meisterwerk werden. Alles war bis ins Kleinste geplant, das Publikum handverlesen: Parteigrößen wie Rüstungsminister Albert Speer und Prominente wie der Schauspieler Heinrich George, Parteigenossen und Mitläufer, Rüstungsarbeiter und Krankenschwestern, Soldaten auf Heimurlaub und nicht allzu schwer verwundete Landser.
Nichts wurde dem Zufall überlassen, die Sprechchöre einstudiert („Deutsche Männer ans Gewehr, deutsche Frauen an die Arbeit" oder „Führer befiehl, wir folgen dir"), die Applausdauer festgelegt. Die zahlreichen Wochenschau-Kameras waren strategisch aufgestellt und die Kameraleute instruiert, vor allem Bilder der Begeisterung einzufangen. Dass auch Beifall vom Band in die Lautsprecher-Anlage eingespielt wurde, erfuhr man erst später. Am 18. Februar 1943, einem Donnerstag, um 17 Uhr begann das Spektakel. Geschätzte 15.000 Menschen waren gekommen. Der große Auftritt des Propaganda-Ministers, Dauer: fast zwei Stunden.
Jetzt sei „die Stunde gekommen, die Glacéhandschuhe auszuziehen und die Faust zu bandagieren", rief Goebbels in den vollbesetzten Riesensaal, den ein einziges Spruchband beherrschte: „Totaler Krieg – Kürzester Krieg". Der „bolschewistische Feind" habe sich wegen seiner Tarnungs- und Täuschungsmanöver als unerwartet stark erwiesen, gestand der Redner, um dann Stalingrad als „Alarmruf des Schicksals" und Ansporn zum „Heldenkampf" gegen den „Ansturm der Steppe" darzustellen. Goebbels schürte die Furcht vor hinter den Sowjettruppen heranrückenden „jüdischen Liquidationskommandos". Diesen unterstellte er just das, was tagtäglich deutscherseits an der Ostfront verursacht wurde: Hunger und Terror. In maßloser Übersteigerung sprach Goebbels von einer „gigantischen" Herausforderung, die er mit rührseligen Wendungen ausmalte.
Das deutsche Volk habe „seine heiligsten Güter" zu verteidigen, seine Familien, Frauen und Kinder, „die Schönheit und Unberührtheit seiner Landschaft, seiner Städte und Dörfer", kurz „das zweitausendjährige Erbe seiner Kultur und alles, was uns das Leben lebenswert macht". Eine Kostprobe der verlogenen Sprache der Diktatur, Goebbels als Wolf im Schafspelz, das Publikum einlullend. Es sollte vergessen, dass die so hochgepriesenen Schönheiten und Werte der Nation durch die Untaten der Nationalsozialisten seit 1933 Zug um Zug herabgewürdigt worden waren.
Geschickt geschnitten für Wochenschau
Dann kam der braune Chefdemagoge zum Höhepunkt seines Auftritts. Psychologisch geschickt, trat er in einen von minutenlangen Beifallsorgien unterbrochenen Scheindialog mit seinem Publikum ein. Dabei legte er den Zuhörern in zehnfacher Wiederholung und Steigerung inhaltlich gleiche oder ähnliche Fragen vor nach folgender Art: „Die Engländer behaupten, das deutsche Volk habe den Glauben an den Sieg verloren. Ich frage euch: Glaubt ihr mit dem Führer und mit uns an den endgültigen totalen Sieg des deutschen Volkes … unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastungen …?" Begeisterte Zustimmung. Weitere Suggestivfragen folgten, eine aufpeitschender als die andere.
An vierter Stelle folgte jene Formulierung, die seither untrennbar mit dem Namen von Goebbels verbunden ist: „Die Engländer behaupten, das deutsche Volk wehrt sich gegen die totalen Kriegsmaßnahmen der Regierung. Es will nicht den totalen Krieg, sondern die Kapitulation … Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?" Und immer wieder tönt
Goebbels ein frenetisches „Ja! Ja! Ja!" entgegen. „Stunde der Idiotie", kommentierte der Nazi-Propagandist später in vertrauter Runde: „Wenn ich den Leuten gesagt hätte, springt aus dem dritten Stock des Columbushauses, sie hätten es auch getan."
Hatte die scheinbar entfesselte Masse nicht erneut seine zynische Sicht der „Canaille Mensch" bestätigt? Der propagandistisch wirkungsvoll bearbeitete, über Radio und Kino-Wochenschau unendlich oft verbreitete Zusammenschnitt der Rede suggerierte jedenfalls eine geschlossene, zum äußersten Krieg bereite „Volksgemeinschaft". Dabei hatten sich in der Sportarena viele Hände nicht einmal gerührt, wie der Journalist Fritz Sänger damals in einem vertraulichen Bericht an die Redaktion der „Frankfurter Zeitung" anmerkte.
Der Effekt der Sportpalast-Rede verpuffte rasch, zu stark war die Kriegsmüdigkeit in den deutschen Landen. Bald schon kursierte im Ruhrgebiet ein von Gestapo-Spitzeln aufgeschnappter Spottvers an die Adresse der fast allnächtlich drohenden britischen Bomber: „Lieber Tommy, fliege weiter. / Wir sind alle Ruhrarbeiter. / Fliege weiter nach Berlin. / Die haben alle ‚Ja‘ geschrien." Im Herbst 1944 mobilisierte der „Volkssturm" schließlich alle Männer zwischen 16 und 60, Hitlers „letztes Aufgebot".
Wirkung der Rede verpuffte schon bald
Eine „Armee der Kinder und Greise", urteilte später der Historiker Guido Knopp, – schlecht ausgerüstet, in Halbschuhen, Kampfkraft gleich Null – sollte dem Ansturm der größten Armee der Weltgeschichte trotzen. Dem Volksmund blieb nur ohnmächtiger Zynismus: „So wollen wir den Feind erwarten, / des Führers letztes Aufgebot, / durch Panzerschreck im Schrebergarten, / zum Reichsfamilienheldentod. / Wir hissen die zerfetzten Segel / und wandern froh an Hitlers Stab, / mit Mann und Maus und Kind und Kegel / ins Massengrab, ins Massengrab." Das Sterben an den Fronten ging weiter. Als es im Frühjahr 1945 zu Ende war, entzogen sich Hitler und Goebbels der Verantwortung durch feigen Selbstmord. Hitler und seine führenden Spießgesellen sind, wie es Goebbels (in der Zeitschrift „Das Reich" am 14. November 1943) vorausgesagt hatte, in die Geschichte eingegangen, nicht als „die größten Staatsmänner aller Zeiten", sondern als ihre größten Verbrecher.